Coronavirus: Der fatale Egoismus im Wettlauf um den Impfstoff
Russische Hacker sollen die britische Impfstoff-Forschung zum Coronavirus ausspioniert haben. Im Kampf gegen die Krise kocht jeder sein eigenes Corona-Süppchen.
Das Wichtigste in Kürze
- Im Kampf gegen das Coronavirus setzen die Staaten auf nationale Alleingänge.
- Dabei bräuchte die globale Krise globale Lösungsansätze.
- Doch die internationale Gemeinschaft verliert weiter an Bedeutung.
Die Geschichte des Coronavirus wird um ein kurioses Kapitel erweitert: Diese Woche erhob Grossbritannien den Vorwurf, russische Hacker aus dem Umfeld des Geheimdienstes hätten britische Forscher ausspioniert. Dabei ging es nicht etwa um militärische Forschung oder Informationstechnik: Ziel der Hacker waren britische Corona-Daten aus der Impfstoff-Forschung.
Dass Vertreter Grossbritanniens sich über mögliche russische Spionage empören, ist nachvollziehbar. Doch das eigentliche Problem geht viel tiefer: Die Staaten denken in der Krise zuerst an sich selbst. Dabei ist das Coronavirus ein globales Problem, welches globale Lösungen erfordert.
Wenn die Impfstoff-Erkenntnisse so bedeutend sind, dass sie von ausländischen Geheimdiensten ausspioniert werden, wieso werden sie dann nicht veröffentlicht? Oder, wie es ein Nau.ch-Leser formulierte: «Warum liefern sich die Länder eigentlich ‹ein Kopf-an-Kopf-Rennen in Sachen Impfstoff-Forschung›, statt zusammen gegen Corona zu kämpfen?»
Coronavirus: Jeder für sich!
Die Corona-Welt gleicht der Titanic nach ihrer Kollision mit dem Eisberg: Panisch versucht jeder, noch einen Platz im Rettungsboot zu ergattern. Von «Frauen und Kinder zuerst», der Verteilung der Ressourcen zugunsten der Bedürftigen, fehlt jede Spur.
Donald Trump hat sich dies unter dem Slogan «America First» gross auf die Stirn geschrieben. Nach jüngsten vielversprechenden Ergebnissen rund ums potenzielle Gegenmittel Remdesivir wurde prompt die Produktion der nächsten drei Monate aufgekauft. Dabei könnte das Mittel bei gerechter Verteilung den schwerstkranken Corona-Patienten weltweit helfen.
Bereits im März informierte das deutsche Unternehmen CureVac über erste Erfolge in der Impfstoff-Forschung. Postwendend kam ein US-Amerikanischer Übernahmeversuch, um sich den Impfstoff des Tübinger Unternehmens exklusiv zu sichern.
Kaum ein Land bleibt derzeit vom Vorwurf des Egoismus verschont. Indien verbot zwischenzeitlich die Hydroxychloroquin-Exporte. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kritisierte gegenüber «La Republica», dass die EU-Staaten nur an sich selbst dachten, als in Italien täglich Hunderte Menschen starben: «Es war ein schädliches Verhalten, das hätte vermieden werden können.»
Internationale Gemeinschaft verliert an Bedeutung
Die Corona-Krise macht eine Entwicklung sichtbar, welche bereits seit längerer Zeit beobachtet werden kann. Immer mehr Staaten versuchen, sich durch Protektionismus in eine vorteilhafte Stellung zu bringen. Bestes Beispiel dafür ist Grossbritannien, das mit dem EU-Austritt versucht, sich von internationalen Einflüssen zu befreien.
Doch ist das ein adäquates Mittel? Im Rahmen der Globalisierung nimmt die internationale Vernetzung von Wirtschaft und Gesellschaft stetig zu, die Politik schwimmt gegen den Kurs. In den USA führte die Suche nach einem Corona-Sündenbock zur Weltgesundheitsorganisation WHO: Die USA haben den Austritt bereits beschlossen.
Angesichts der aktuellen Lage rutscht die Welt damit in eine gefährliche Situation, befürchtet Oliver Classen von der Nichtregierungsorganisation Public Eye: «In der Corona-Krise können sich auch reiche Länder nicht zurücklehnen, sondern sind der Gier und Willkür der Pharmaindustrie schutzlos ausgeliefert.»
Ethische Prinzipien würden dabei nicht berücksichtigt, kritisiert Classen. Daher fordert Public Eye einen freien Ressourcenaustausch, um eine globale Verteilungsgerechtigkeit zu erreichen. Dies könne nur von der WHO gestemmt werden.
Die WHO verfügt zwar über Geldmittel, welche sie auch im Kampf gegen das Coronavirus einsetzt. Doch gegenüber den Staaten kann die WHO nur Empfehlungen aussprechen und verfügt über keinerlei Druckmittel.
Impfstoff: Wettrennen statt Team-Effort
Zurück zu den Impfungen: Fast zweihundert Impfstoffe befinden sich gemäss «Covid-19 Vaccine Tracker» weltweit in der Entwicklung.
Doch die Forschung bleibt oft von nationalen Interessen gelenkt: Viele Projekte werden staatlich finanziert. Die Impfstoff-Forschung wird wohl oft nicht vom Gedanken angetrieben, die globale Bedrohungslage zu mindern, sondern die Lage im eigenen Land.
Hoffnung birgt die «Koalition für Innovationen in der Epidemievorbeugung» CEPI, die 2017 gegründet wurden: Gestützt von WHO, der EU-Kommission und der Bill & Melinda Gates Foundation koordiniert und finanziert die Allianz weltweit Impfstoff-Projekte.
Doch die Forschung könnte wohl schneller voranschreiten, wenn es nicht zu nationalen Alleingängen käme. Das Coronavirus bleibt eine globale Bedrohung. Lokale Massnahmen helfen wenig: Solange das Virus nicht flächendeckend bekämpft wird, muss der internationale Austausch eingeschränkt bleiben. Das schadet unter anderem der Wirtschaft.
Die ersten Impfstoffe stehen mittlerweile kurz vor Phase-III-Studien, nach welchen möglicherweise eine Marktzulassung folgt. Doch wie lange es noch dauern wird, bis ein Impfstoff global verfügbar ist, hängt wesentlich von der internationalen Zusammenarbeit ab.