Israels Annexionspläne: Gefahr für regionales Gleichgewicht?
Die Palästinenser sehen das Westjordanland als ihr künftiges Staatsgebiet. Doch nun will Israel sich weite Teile des 1967 besetzten Gebietes einverleiben. Welche Folgen könnte das für die Region haben?
Das Wichtigste in Kürze
- Mahmud Bscharat sitzt auf einem Metallbett in seinem halboffenen Beduinenzelt im Norden des Jordantals.
Der Ort Hamsa al-Tahta gehört zu den Gebieten im besetzten Westjordanland, die Israel in diesem Sommer annektieren könnte.
«Dies ist unser Land», sagt der 39-jährige Palästinenser Bscharat. Seine Familie lebe seit Generationen im Jordantal, noch vor der Eroberung durch Israel im Sechstagekrieg 1967. Angesichts der israelischen Annexionspläne ist sein Schicksal jetzt aber ungewiss, wie das von mehr als 50.000 anderen Palästinensern in dem Gebiet entlang der Grenze zu Jordanien.
WAS PASSIERT IN DIESEM SOMMER?
Israels Regierung will auf Grundlage des im Januar veröffentlichten Nahost-Plans von US-Präsident Donald Trump bis zu 30 Prozent des Westjordanlands annektieren. Erste Schritte könnten schon am 1. Juli eingeleitet werden. Israel nennt das Westjordanland auf hebräisch Judäa und Samaria. Es rechtfertigt die geplante Annexion mit einer Mischung aus biblischen, historischen und sicherheitspolitischen Gründen.
DER DRUCK DER ISRAELISCHEN SIEDLER
Israel hätte das Land schon direkt nach der Eroberung vor 53 Jahren annektieren müssen, meint Jossi Dagan, Chef des Siedlerrats im nördlichen Westjordanland. «Aber besser spät als nie.» Sie müssten Teil Israels werden, «wie sie es mit den Golanhöhen und Jerusalem gemacht haben». Doch es gibt auch Widerstand unter den Siedlern. Viele von ihnen sind zwar für die Annexion, aber strikt gegen die Gründung eines in Trumps Plan ebenfalls vorgesehenen Palästinenserstaates.
Israel hatte 1967 unter anderem das Westjordanland und Ost-Jerusalem erobert. Die Zahl der israelischen Siedler ist laut der Organisation Peace Now seitdem auf mehr als 600.000 gewachsen. Die Palästinenser fordern die Gebiete für einen eigenen Staat - mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. Israel sieht in seiner Siedlungspolitik anders als die EU keinen Rechtsbruch.
DIE SORGEN DER ANNEXIONSGEGNER
Gegner einer Annexion sehen darin jedoch einen klaren Verstoss gegen internationales Recht. Der Juraprofessor Juval Schani meint, es könne auch Schwierigkeiten mit palästinensischen Enklaven in den annektierten Gebieten geben. Regierungschef Benjamin Netanjahu hat betont, man habe nicht die Absicht, Palästinensern in diesen Gebieten eine israelische Staatsangehörigkeit zu verleihen. «Falls sich dies negativ auf ihr Leben auswirkt, etwa wenn sie plötzlich Reisegenehmigungen brauchen, aber im Gegenzug keine echten Rechte bekommen, könnte sich auch Israels Höchstes Gericht einmischen», sagt Schani.
SCHADEN AN DEN BEZIEHUNGEN ZU JORDANIEN?
Jordanien, das östlich an den Jordan grenzt, hat sich immer wieder vehement gegen die israelischen Pläne ausgesprochen. Es gibt Warnungen, sie könnten den wichtigen Sicherheitsbeziehungen beider Seiten schwer schaden. Bei einem Blitzbesuch in Ramallah nannte der jordanische Aussenminister Aiman Safadi eine mögliche Annexion «eine nie dagewesene Bedrohung des Friedensprozesses» zwischen Israel und den Palästinensern. Ein solcher Schritt werde jede Möglichkeit für eine Zwei-Staaten-Lösung zerstören «und alle Völker der Region daran hindern, in Frieden, Sicherheit und Stabilität zu leben». Israel würde damit zeigen, dass es den Konflikt einer Friedenslösung vorziehe, «und die Konsequenzen tragen», sagte er in einer kaum verhüllten Drohung.
DIE DEUTSCHE ROLLE
Bundesaussenminister Heiko Maas hatte bei einem Israelbesuch in diesem Monat die geplante Annexion zwar als Rechtsbruch kritisiert, aber auf eine Drohung mit Konsequenzen verzichtet. Ein israelischer Regierungsvertreter sagte anlässlich des Besuchs: «Wir glauben, dass Deutschland nicht einmal im Fall einer Annexion einen palästinensischen Staat anerkennen würde und auch Sanktionen gegen Israel nicht unterstützen wird.»
Deutschland wird bei den Diskussion um die Annexion eine wichtige Rolle zufallen. Denn am 1. Juli übernimmt es die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union und den Vorsitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
WARUM GERADE JETZT?
Warum will Netanjahu die Annexionspläne gerade zu diesem Zeitpunkt durchboxen? Experten meinen, der 70-Jährige sehe den Schritt als wichtigen Teil seines politischen Vermächtnisses und als Gelegenheit, in die Geschichte einzugehen. Auch angesichts seines Korruptionsprozesses glaube der Sohn eines rechtskonservativen Geschichtsprofessors, seine Tage als Regierungschef seien gezählt, schrieb ein Kommentator der «Times of Israel».
In Israel herrscht ein breiter Konsens hinsichtlich der Gebiete, die annektiert werden könnten. Selbst Izchak Rabin, der 1995 ermordete Architekt der Osloer Friedensverträge mit den Palästinensern, vertrat die Ansicht, dass die Siedlungsblöcke im Rahmen einer dauerhaften Friedensregelung Teil Israels bleiben sollten. Und auch er bestand auf einer fortwährenden Präsenz Israels an der Grenze zu Jordanien.
Ein weiterer Grund zur Eile sind die US-Wahlen im November. Während Israels Pläne Teil des Trump-Plans sind, hat dessen Rivale Joe Biden sich gegen die Annexion ausgesprochen.
WARNRUFE IN ISRAEL
Doch auch in Israel gibt es kritische Stimmen. Der Sicherheitsexperte Amos Gilad sagt, eine Annexion wäre «ein Desaster für unsere nationale Sicherheit». Der Schritt könne den Beziehungen zu den arabischen Staaten schwer schaden und die wichtige gemeinsame Front gegen den Erzfeind Iran aufbrechen, warnt Gilad, früher Leiter der Abteilung für politisch-militärische Angelegenheiten im israelischen Verteidigungsministerium. «Die arabischen Staaten sind unsere strategischen Partner geworden. Warum müssen wir sie verärgern?»
Eine Annexion könne auch der im Gazastreifen herrschenden islamistischen Hamas in die Hände spielen, sagt Gilad. Während der Palästinenserpräsident Mahmud Abbas Terror ablehne, «sagt Hamas, wir wissen, wie man mit Israel umgehen muss, nur mit Terror und Gewalt». Eine Annexion bedeute das Scheitern von Abbas' Weg «und das würde bedeuten, die Alternative ist Gewalt».
DIE ZUKUNFT DER PALÄSTINENSER
Amit Gilutz von der israelischen Menschenrechtsbewegung Betselem sagt, Israel versuche schon seit langem, die Palästinenser im Jordantal dazu zu bringen, das Gebiet zu verlassen. Es wolle sich so viel wie möglich der sogenannten C-Gebiete unter israelischer Kontrolle im Westjordanland einverleiben, mit möglichst wenig palästinensischer Bevölkerung. Laut seiner Organisation leben im Jordantal rund 13.000 Israelis in mehreren Dutzend Siedlungen.
Mahmud Bscharat sagt, Israel habe in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder die Zelte seiner Familie zerstört, weil er die notwendigen Genehmigungen nicht bekommen habe. Trumps «Friedensplan» für die Region löst auch bei seinem Vater Hajel Bescharat nur Verbitterung aus. Der alte Mann schimpft: «Soll Trump doch sein eigenes Land in den USA weggeben - aber nicht unseres!»