Briten bangen um die Früchte ihres Impfwunders
Am 21. Juni wollte Boris Johnson eigentlich alle Corona-Massnahmen aufheben. Doch die indische Virus-Variante könnte ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Holen ihn Fehler in der Pandemie ein?
Das Wichtigste in Kürze
- Insel der Seligen: In Grossbritannien schien die Corona-Pandemie nach dem ungeheuren Erfolg der Impfkampagne schon fast überwunden zu sein.
Die Bilanz kann sich sehen lassen: Mehr als zwei Drittel der Erwachsenen sind erstmalig geimpft, über ein Drittel sogar schon vollständig.
«Behutsam aber irreversibel» werde das Land in die Normalität zurückkehren, kündigte Premierminister Boris Johnson im Februar an. Bis zum 21. Juni, so der Plan, sollten zumindest im grössten britischen Landesteil England alle Corona-Massnahmen aufgehoben werden.
Doch inzwischen gibt es Zweifel, ob der Lockerungsfahrplan eingehalten werden kann. Lokale Ausbrüche der indischen Virusvariante B.1.617.2, die auf dem asiatischen Subkontinent zu einer drastischen Welle an Infektionen und Todesfällen führte, sorgen für Unruhe bei den Briten. Das renommierte Expertengremium SAGE (Scientific Advisory Group for Emergencies), das die Regierung berät, fürchtet, dass die indische Variante um bis zu 50 Prozent ansteckender sein könnte als die bisher in Grossbritannien vorherrschende sogenannte britische Mutante B.1.1.7. Bislang wurden rund 1300 Fälle in Grossbritannien registriert - doch die Zahl hatte sich innerhalb einer Woche beinahe verdreifacht. Experten gehen davon aus, dass sich die Variante in dem Land schon bald als dominant durchsetzen wird.
Die Bundesregierung hatte das Vereinigte Königreich wegen des Auftretens der Variante am Freitag wieder als Corona-Risikogebiet eingestuft. Und das obwohl Grossbritannien derzeit mit einer landesweiten Sieben-Tage-Inzidenz von rund 24 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche vergleichsweise nur wenige Fälle hat. Bislang wurden auch in den betroffenen Gebieten keine erhöhten Krankenhauseinweisungen oder Todesfälle registriert. Daher gibt es Hoffnung, dass die Impfungen zumindest gegen schwere Erkrankungen mit dem mutierten Erreger schützen.
Zunächst einmal will London deshalb auch an den Lockerungen wie geplant festhalten. Von diesem Montag an sollen in England wieder Treffen von bis zu sechs Personen in Privathaushalten möglich sein. Auch die Innengastronomie, Theater, Kinos und Museen dürfen wieder Gäste empfangen. Selbst Auslandsreisen sind teilweise wieder ohne Auflagen erlaubt.
Doch sollten sich die Befürchtungen über die höhere Übertragbarkeit von B.1.617.2 bewahrheiten, könnte der Fahrplan für weitere Öffnungsschritte ins Stocken geraten, warnte Premierminister Johnson am Freitag. Ob wie geplant am 21. Juni wieder Normalität einkehren kann, will die Regierung nun erst eine Woche davor entscheiden.
Sollte es nicht klappen, könnte Johnsons zuletzt eher positive Bilanz in der Pandemie wieder ins Negative umschlagen. Am Wochenende wurden Stimmen laut, die dem Premier vorwarfen, wieder einmal zu langsam gehandelt zu haben. Erst am 23. April wurden die Bestimmungen für Einreisende aus Indien drastisch verschärft - erst drei Wochen nachdem bereits Pakistan und Bangladesch auf die Rote Liste der Virusvarianten-Gebiete gesetzt wurden, für die bei Einreise eine Hotelquarantäne vorgeschrieben ist. Doch bis dahin waren laut «Sunday Times» bereits mindestens 20.000 Menschen eingereist, die womöglich das Virus mit sich brachten.
Kritiker sehen einen Zusammenhang zu einer geplanten Indien-Reise des Premiers, die Johnson eigentlich dazu nutzen wollte, die Pläne für ein Handelsabkommen mit Indien voranzubringen - eines der wichtigsten Brexit-Versprechen. Erst nach langem Zögern sagte Johnson die Reise am 19. April schliesslich ab, und selbst dann dauerte es noch mehrere Tage bis die verschärften Richtlinien in Kraft traten. «Es sieht so aus, als würde Boris Johnson das Streben nach einem Handelsabkommen mit Indien der öffentlichen Gesundheit vorziehen», kritisierte die liberaldemokratische Abgeordnete Layla Moran.