Delta: Deutschland nähert sich Portugal und Grossbritannien

Die Dominanz der riskanten Variante in Deutschland scheint unaufhaltbar. Die Regierung setzt auf freiwillige regelmässige Tests und mehr Kontrollen. Reise-Regeln verschärfen will sie nicht.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn spricht in der Bundespressekonferenz. Foto: Wolfgang Kumm/dpa - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Deutschland nähert sich bei der Verbreitung der ansteckenderen Delta-Variante nach Erwartung der Bundesregierung immer mehr den Verhältnissen von Grossbritannien oder Portugal.

Beide Länder sollen in wenigen Tagen von ihrem Status als Virusvarianten- zum Hochinzidenzgebiet heruntergestuft werden, wenn die Delta-Anteile in Deutschland vergleichbar sind. Das kündigte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Donnerstag in Berlin an. Nach Einschätzung des Robert Koch-Instituts geht mindestens jede zweite Corona-Ansteckung in Deutschland bereits auf Delta zurück. Jetzt kommt es aus Spahns Sicht darauf an, die absolute Zahl solcher Infektionen klein zu halten. Die Bundespolizei kontrolliert laut Innenminister Horst Seehofer (CSU) verstärkt Rückkehrer und Einreisende an Flughäfen.

Jede zweite Neuinfektion mit Delta

Delta wird sich nach Schätzung des Robert Koch-Instituts (RKI) in Deutschland durchsetzen. Spahn mahnte, die bald für alle bestehende Impf-Chance zu ergreifen und von den «en masse» verfügbaren Test Gebrauch zu machen. «Es liegt an uns, ob Delta eine Chance hat.» Spahn sagte: «Doppelt geimpft schützt gegen Delta.» Dies sei mittlerweile erwiesen. Menschen ohne Impfung, gerade auch zurückkehrende Urlauber, sollten sich regelmässig testen lassen.

Wegen Qualitätsunterschieden bei Schnelltests macht laut Experten vor allem ihr regelmässiger Gebrauch Sinn - etwa zum Screening in Betrieb oder Schule. Im Einzelfall könnten Tests für ein positives Ergebnis eine so hohe Virenzahl benötigen, wie man sie mit Symptomen erreicht.

Jüngste konkrete Messungen ergaben laut RKI einen Delta-Anteil von rund 37 Prozent - allerdings ist die Stichprobe noch von Mitte Juni. Die Corona-Verbreitung ist insgesamt noch rückläufig. Binnen eines Tages gab es bundesweit 892 Neuinfektionen. Bei 5,1 lag laut RKI die Sieben-Tage-Inzidenz (Vortag: 5,2 - Vorwoche: 6,6). Fachleute befürchten eine Trendumkehr mit zunehmender Delta-Verbreitung.

Vorsicht beim Reisen

Urlaubsreisen nach Portugal und Grossbritannien werden wieder leichter möglich - wenn die Länder von Virusvarianten- zu Hochinzidenzgebieten heruntergestuft werden. Dies werde der Fall sein, wenn die Anteile der ansteckenderen Delta-Variante vergleichbar seien, voraussichtlich bei 70 bis 80 Prozent, sagte Spahn. Die Neubewertung werde für die kommenden Tage erwartet. Ausschlaggebend seien der relative Anteil der Variante in Deutschland und die Schutzwirkung der zunehmenden Zahl der doppelten Impfungen. Die derzeitige Einstufung als Virusvariantengebiet schreibt 14 Tage Quarantäne vor.

Stationäre Grenzkontrollen will Seehofer auch im Sommer nicht einführen - und so lange Staus an den Grenzübergängen vermeiden. Die Polizeikontrollen an Flughäfen würden aber verstärkt. Und an Autobahnen soll es Stichproben-Kontrollen geben. «Wer einreist, muss damit rechnen, kontrolliert zu werden», sagte Seehofer. Die Gesundheitsämter kontrollieren laut Spahn die Einhaltung von Quarantäne. Das Sinken der Inzidenzen gebe ihnen dafür den Freiraum.

Spahn verteidigte die Reisepolitik der Regierung. Es könne nicht für jeden - egal ob aus Risikogebiet oder nicht - eine Testpflicht eingeführt werden. Die Regierung wolle Balance von Freiheitsrechten und Gesundheitsschutz halten. Von den Ländern seien bei der jüngsten Bund-Länder-Schalte zum Thema nur von einem Land Vorschläge für Verschärfungen gekommen. Aktuell ist kein Nachbarland Deutschlands als Risikogebiet eingestuft. Bei den Kontrollen von Autofahrern geht es auch um Reisende, die aus der Türkei oder Grossbritannien kommen.

Sorgen macht sich die Regierung wegen der Fussball-EM. Seehofer kritisierte den UEFA-Kurs als «absolut verantwortungslos». Es sei bei dicht gedrängten Menschen in Stadien «vorgezeichnet, dass dies das Infektionsgeschehen befördert».

Start des Impfnachweises

Der EU-Impfnachweis startete offiziell am Donnerstag. 200 Millionen Stück sind laut EU-Kommission bereits ausgestellt - für den Nachweis frischer Tests, Impfungen und Genesungen europaweit. Reisende können mit einem Nachweis über eine Impfung in mehreren Ländern Quarantäne vermeiden. Die Nachweise werden vielerorts auch für Besuche in Restaurants, Clubs oder Veranstaltungen benötigt. Sie sollen in der ganzen EU sowie Norwegen, der Schweiz und Island zum Einsatz kommen. Wie der breite Einsatz in der Praxis klappt, muss sich in den kommenden Tagen und Wochen zeigen.

Änderungen gab es auch im deutschen Recht. So war die Bundesnotbremse im Infektionsschutzgesetz bis zum 30. Juni befristet. Die Wirtschaft begrüsste unterdessen das Auslaufen der coronabedingten Homeofficepflicht am Mittwoch.

Impfung für alle in diesem Monat

Im neuen Monat sollen alle impfwilligen Erwachsenen das Angebot einer Erstimpfung erhalten. Momentan sind 37,3 vollständig und 55,1 Prozent mit mindestens einer Impfdosis geimpft. Spahn teilte mit, allein mit den Lieferungen durch Biontech/Pfizer und Moderna könne allen erwachsenen Impfwilligen ein Angebot im Juli gemacht werden. Für Kinder und Jugendliche soll bis Ende August mindestens die erste Impfung möglich gemacht werden. Laut einer Mitteilung der Ständigen Impfkommission sollen Menschen, die als erste Dosis das Vakzin von Astrazeneca bekommen haben, unabhängig vom Alter zum besseren Schutz vor Delta als zweite Impfung voraussichtlich Biontech oder Moderna bekommen.

Fürs kommende Jahr sollen 204 Millionen Impfdosen verschiedener Hersteller bestellt werden, teilte Spahn mit. Reichen solle das für zwei Impfdosen pro Person und einen Sicherheitspuffer - laut einem vom «Handelsblatt» zitierten Bericht für den Schutz gegen Mutationen und für Auffrischungsimpfungen. Die Mengen seien EU-vertraglich gesichert oder als Wünsche angemeldet, so Spahn. Ohne Beteiligung Deutschlands an den Verträgen hätte die ganze EU laut Spahn weniger Sicherheit. Insgesamt rechnet das Ministerium laut «Handelsblatt» mit Kosten in Höhe von 3,9 Milliarden Euro für die Lieferungen 2022.

Innerhalb Deutschlands will Spahn auf «on demand» umstellen. Die für Impfzentren, Arztpraxen und Betriebsärzte gebrauchten Dosen würden geliefert. Die Länder wollten aber Impfstoff nicht lagern, geliefert werde nur das Bestellte. Der Rest werde durch den Bund gelagert oder dem internationalen Impfprogramm Covax gegeben.