Coronavirus: Warum zieht Schweden nicht die Reissleine?
Schweden hat die lockersten Regeln Europas und die meisten Infektionen mit dem Coronavirus in Skandinavien. Warum hält das Land an seiner Strategie fest?
Das Wichtigste in Kürze
- In Schweden gelten keine Verbote, sondern Empfehlungen gegen das Coronavirus.
- Die Ansteckungszahlen sind höher als im Rest Skandinaviens.
- Die Strategie wird von Wissenschaftlern kritisiert.
Während in anderen Ländern Ausgehverbote herrschen und sämtliche Geschäfte geschlossen sind, hat Schweden auf einen Corona-Lockdown verzichtet. Restaurants, Schulen und Geschäfte bleiben trotz dem grassierenden Coronavirus offen. Die Regierung setzt auf die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger.
Der schwedische «Sonderweg» beschränkt sich auf Empfehlungen zum Abstand halten und Zuhausebleiben, wenn man krank ist. Veranstaltungen mit mehr als 50 Teilnehmenden sind verboten.
Strategie ist umstritten
In Schweden haben sich bisher viel mehr Menschen mit dem Coronavirus infiziert als in den skandinavischen Nachbarländern. Laut Zahlen der Johns Hopkins Universität zählt Schweden am Dienstagnachmittag 16'004 Angesteckte und 1937 Tote.
Zum Vergleich: Norwegen zählt zum selben Zeitpunkt 7241 Ansteckungen und 182 Corona-Tote, in Dänemark sind es 7912 Angesteckte und 384 Tote. Beide Länder haben gut halb so viele Einwohner wie Schweden.
Die hohe Zahl an Corona-Erkrankten ruft Kritik hervor. Mit einem Brief haben knapp 2000 Wissenschaftler die Regierung zum Umdenken aufgerufen. Darunter ist auch Bo Lundbäck, Professor für klinische Epidemiologie von Lungenerkrankungen in Göteborg. Er fordert die Schliessung aller Schulen und einen besseren Schutz des Personals in den Altersheimen.
Regierung hält wohl an Kurs fest
Prägend für die schwedische Strategie ist der Staatsepidemiologe Anders Tegnell. Dieser glaubt: «Wir erreichen mit Freiwilligkeit genauso viel wie andere Länder mit Restriktionen.» Es sei wenig wahrscheinlich, dass Schweden die Richtung ändere.
Das Ziel ist wie in anderen Ländern, die Ansteckungskurve mit dem Coronavirus abzuflachen. Aber auch Menschen über 70 zu schützen und eine Überlastung des Gesundheitsystems zu verhindern.
Schweden vertrauen zu 98 Prozent der Regierung
Während Wissenschaftler wie Lundbäck die Richtlinien als zu vage ansehen, geniessen die Behörden das Vertrauen der Öffentlichkeit. Dies zeigt eine Studie der Organisation Vetenskap & Allmänhet vom gestrigen Dienstag. Demnach haben die Schweden grosses Vertrauen in die Regierung. Aber auch in die Gesundheitsbehörden, wenn diese in den Medien zum Coronavirus Stellung nehmen.
Zudem scheinen die Empfehlungen Wirkung zu zeigen. Wie das Institut für Globale Gesundheit Berlin in einem Artikel schreibt, haben laut einer Umfrage vom 6. April ganze 98 Prozent der Menschen in Schweden ihr Verhalten aufgrund des Coronavirus verändert.
Kurve des Coronavirus bleibt gerade
Wie sich die Ansteckungen in Schweden entwickeln werden, ist umstritten. Manche erwarten die Katastrophe, andere sehen mit einer flacheren Kurve bereits den Erfolg des schwedischen Modells.
In einer Pressekonferenz heute Mittwoch sagte Tegnell gemäss dem Newsportal «The Local Sweden»: «Die Kurve ist jetzt ziemlich gerade, eigentlich seit Anfang April. Das sind sehr gute Nachrichten, auch wenn die Lage in Stockholm angespannt ist.»
Die Frage nach der Immunität
Geht Tegnells Strategie auf, könnte Schweden schon bald eine Herdenimmunität erreichen. Das würde bedeuten, dass genügend Menschen immun sind, um die Verbreitung des Virus zu verhindern. Weil sie die Krankheit durchgemacht haben oder geimpft wurden.
Allerdings ist unklar, ob das Prinzip der Herdenimmunität funktionieren würde. Wissenschaftlich ist bisher nicht bewiesen, ob und wie lange vom Coronavirus geheilte Personen gegen eine erneute Ansteckung immun sind.