Taliban-Vormarsch stärkt Al-Kaida und IS

Die Rückkehr der Taliban nach Afghanistan könnte nun andere militant-islamistische Gruppierungen ermutigen und zu Taten motivieren.

Ein Taliban-Kämpfer steht an einem Kontrollpunkt im Viertel Wazir Akbar Khan in afghanischen Hauptstadt Kabul. - dpa-infocom GmbH/Rahmat Gul

Das Wichtigste in Kürze

  • Die militant-islamistischen Taliban feiern ihre Machtübernahme in Afghanistan.
  • Experten warnen, dass dieser Vormarsch für andere rechtsradikale Gruppen Hoffnung bringt.
  • Dschihadisten weltweit könnten sich nun bestätigt fühlen und aktiv werden.

Mit ihrem Einsatz in Afghanistan wollten die USA das Terrornetzwerk Al-Kaida besiegen. Doch mit der Rückkehr der Taliban an die Macht feiern die Dschihadisten jetzt nicht nur einen Propaganda-Erfolg.

Als die Taliban in Afghanistan eine Provinz nach der anderen unter Kontrolle brachten, öffneten sie mehr als ein Dutzend Gefängnisse. Tausende Häftlinge kamen frei, die mit der militant-islamistischen Bewegung eng verbunden sind.

Terrornetzwerk Al-Kaida erhält Verstärkung

Und noch eine weitere Organisation dürfte sich gerade über regen Zulauf freuen. Und zwar da offenbar auch zahlreiche ihrer Mitglieder zu den Gefangenen zählten: das Terrornetzwerk Al-Kaida. Tausende Anhänger der Dschihadisten seien in die Freiheit entlassen worden. Das schätzt Terrorismus-Experte Charles Lister vom Middle East Institute (MEI) in Washington.

Auch die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) dürfte Morgenluft wittern. Sie ist trotz grosser ideologischer Nähe mit den Taliban und Al-Kaida verfeindet. Die Anschlagsgefahr in Afghanistan gilt derzeit vor allem wegen des afghanischen IS-Ablegers als hoch.

Der Kopf der Terrororganisation Al-Kaida, Osama bin Laden. - Keystone

Dieser könnte das Chaos am Flughafen von Kabul für ein Attentat nutzen, etwa mit Sprengstoffanschlägen von Selbstmordattentätern. Es wäre eine Botschaft an die Welt, aber auch eine Blamage für die Taliban. Und zwar, weil sie ihre Sicherheitsgarantien nicht durchsetzen könnten. Schon in der Vergangenheit verübte der IS in Afghanistan immer wieder Anschläge.

Al-Kaida hält sich dort hingegen seit längerem bedeckt. Die Taliban und das Terrornetzwerk - das ist die Geschichte einer langen und engen Partnerschaft. Von Afghanistan aus ordnete die Al-Kaida-Ikone Osama bin Laden die Terroranschläge vom 11. September 2001 an, was zum US-Militäreinsatz und zum Sturz der Taliban führte.

Ein später Triumph Al-Kaidas

An ihrem Bündnis mit dem Terrornetzwerk hielt die Bewegung dennoch fest, zum Vorteil beider Seiten. Der Sieg der Taliban ist auch ein später Triumph Al-Kaidas, ausgerechnet kurz vor dem 20. Jahrestag der Anschläge.

«Das beweist aus Sicht der Organisation, dass ihre Strategie aufgegangen ist.» Das sagt Guido Steinberg, Terrorismus-Experte der in Berlin ansässigen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). «Al-Kaida hat zusammen mit den Taliban die Macht übernommen.»

Al-Kaida-Verbündete haben 2012 die Wüstenstadt Timbuktu zerstört. - Keystone

Fachleute sehen in dem Taliban-Vormarsch nicht zuletzt einen enormen Propaganda-Erfolg für die Dschihad-Bewegung in der ganzen Welt. Anhänger radikaler und gewaltbereiter Gruppen fühlen sich in ihrer Ansicht bestätigt, dass sie über die «Ungläubigen» im Westen siegen werden. Und zwar, wenn sie nur lange genug standhaft durchhalten. «Das ist ein Weckruf für die globale dschihadistische Bewegung», warnt Steinberg.

Sicherheitsexperten fragen sich nun, was die Entwicklung in Afghanistan für mögliche Terroranschläge auf internationale Ziele bedeutet. US-Präsident Joe Biden biegt den US-geführten Einsatz am Hindukusch im Nachhinein zu einer reinen Anti-Terror-Mission um. Nicht der Aufbau von Demokratie und Institutionen, sondern der Kampf gegen Al-Kaida sei das Ziel gewesen, sagt er. Und bewertet das Ergebnis vor diesem Hintergrund als Erfolg.

Verschwinden ist nicht belegt

«Wir sind nach Afghanistan mit dem ausdrücklichen Ziel gegangen, Al-Kaida in Afghanistan loszuwerden und Osama bin Laden zu fassen. Und das haben wir getan», sagt Biden. «Welches Interesse haben wir jetzt in Afghanistan, wo Al-Kaida (dort) verschwunden ist?»

Ob Al-Kaida tatsächlich aus Afghanistan verschwunden ist, daran gibt es allerdings erhebliche Zweifel. Das Terrornetz sei in mindestens 15 der 34 afghanischen Provinzen weiterhin präsent. Das hiess es in einem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom Juni.

«Die Taliban sind weiterhin eng mit Al-Kaida verbunden und zeigen keine Anzeichen für einen Abbruch der Beziehungen.» Ein bedeutender Teil der Führung der Organisation sei im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan. Und strebe an, ihren «sicheren Hafen» dort zu bewahren.

Ein Taliban-Kämpfer steht am Haupttor, das zum afghanischen Präsidentenpalast führt, in Kabul, Afghanistan. - keystone

US-Aussenminister Antony Blinken musste nach Bidens Äusserungen zurückrudern. Nach mehreren Nachfragen in einem Interview des Senders Fox News sagte Blinken: «Gibt es noch Mitglieder und Überbleibsel in Afghanistan? Ja.»

«Aber worauf sich der Präsident bezog, war ihre Fähigkeit, das zu tun, was sie am 11. September 2001 getan hat. Und diese Fähigkeit wurde sehr erfolgreich reduziert», so Blinken.

Biden sagt, die terroristische Bedrohung habe sich weit über Afghanistan hinaus ausgebreitet. «Und deshalb bin ich als Präsident fest entschlossen, dass wir uns im Jahr 2021 auf die Bedrohungen von heute konzentrieren. Und nicht auf die Bedrohungen von gestern.»

Al-Kaida sei operativ geschwächt, so ein Experte

Tatsächlich hat Al-Kaida die alte Stärke verloren, international Anschläge zu verüben, nicht zuletzt durch Bin Ladens Tod. Dem jetzigen Kopf des Terrornetzwerks, dem Ägypter Aiman al-Sawahiri, fehlt es an Charisma. Dies, um eine Wirkung zu entfalten wie sein Vorgänger. Vor allem jüngere Dschihadisten fühlen sich von ihm nicht angesprochen.

Al-Kaida sei operativ geschwächt und habe Probleme, Nachwuchs zu rekrutieren, sagte Experte Steinberg. Sawahiri meldet sich mit Video- oder Audiobotschaften nur selten zu Wort. Aufhalten soll er sich im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan. Seit langem kursieren aber - unbestätigte - Gerüchte über Sawahiris Tod.

Kämpfer der radikalislamischen Taliban in der afghanischen Hauptstadt Kabul (Archiv). - Keystone

Stark an Einfluss gewonnen haben in den vergangenen Jahren hingegen regionale Ableger des Netzwerks. Dies sicherte über die Jahre auch dessen Überleben. Dazu zählt unter anderem die Gruppe Al-Kaida auf dem Indischen Subkontinent (AQIS).

Diese operiert laut dem Bericht der UN-Experten unter dem Schirm der Taliban in den afghanischen Provinzen Kandahar, Helmand und Nimrus. Das Terrornetzwerk könnte mit den neuen Machthabern wieder aus einem sicheren Hafen Attentate auf internationale Ziele planen. Das heisst es in dem UN-Bericht.

Taliban wollen Alleinherrschaft in Afghanistan

Die Taliban beteuern, sie würden weder Al-Kaida noch anderen Gruppen gestatten, von Afghanistan aus Angriffe zu starten. Wie glaubwürdig ist dieses Bekenntnis? Derzeit falle es dem Terrornetzwerk schwer, ausserhalb der Region Anschläge zu verüben, sagt Steinberg.

Für ihn ist auch ein Szenario denkbar, in dem die Taliban versuchen, Angriffe im Ausland zu unterbinden. Eine Entwarnung bedeutet das nach Steinbergs Einschätzung aber nicht: «Selbst wenn sich die Taliban insgesamt mässigen, wächst die Gefahr, dass sich die Radikaleren nicht an die Vorgaben halten.»

Schliesslich gebe es innerhalb der Taliban eine starke dschihadistische Strömung. Deren Ziel ist eindeutig: Sie will ihren Kampf in andere Weltregionen tragen.