Tunesiens Präsident Saïed baut Kontrolle über Justiz aus

Tunesiens Präsident Kaïs Saïed hat seine Kontrolle über das Justizsystem des Landes ausgebaut.

Proteste in Tunis gegen Präsident Saïed - AFP

Das Wichtigste in Kürze

  • Proteste gegen per Dekret regierenden Staatschef weiten sich aus.

Saïed schuf am Sonntag per Dekret einen neuen Obersten Justizrat, dessen Mitglieder der Staatschef zum Teil selbst ernennt und die er disziplinarisch belangen kann. Im Zentrum der Hauptstadt Tunis demonstrierten daraufhin mehr als 2000 Menschen für die Unabhängigkeit der Justiz.

«Das Volk will, was ihr nicht wollt», skandierten die Demonstranten. «Das Volk will den Sturz des Regimes», hiess es zudem - ein beliebter Slogan der Proteste, die 2011 zum Sturz des Langzeit-Machthabers Zine El-Abidine Ben Ali geführt hatten. Demonstranten trugen Schilder mit Parolen wie «Rettet unsere Demokratie!» und «Rührt die Justiz nicht an!»

Saïed hatte den bisherigen Obersten Justizrat (CSM) vor einer Woche aufgelöst und «bestimmten» Mitgliedern des 45-köpfigen Gremiums Parteilichkeit, Korruption und die Verschleppung von Verfahren vorgeworfen. Nach Einschätzung von Beobachtern zielte der Schritt vor allem auf die islamistische Ennahdha-Partei ab, die seit Ben Alis Sturz starken Einfluss auf die tunesische Politik hatte.

Der neue Justizrat soll dem Erlass zufolge «temporär» sein. Neun seiner 21 Mitglieder werden demnach direkt vom Präsidenten ernannt. Die restlichen Richter unterliegen indirekt ebenfalls der Kontrolle des Staatsoberhauptes, denn dieses kann sie entlassen, wenn sie ihre «Berufspflichten» verletzen.

Ausserdem ist es nun «Richtern aller Dienstgrade untersagt, zu streiken oder organisierte kollektive Aktionen durchzuführen, die den normalen Betrieb der Gerichte stören oder verzögern könnten». Infolge der Auflösung des CSM hatten Richter in den vergangenen Tagen landesweit gestreikt, um eine Beschneidung ihrer Unabhängigkeit anzuprangern.

Das Dekret «schreibt die Unterordnung der Justiz unter die Exekutive fest», sagte Said Benarbia, Regionaldirektor der Internationalen Juristenkommission, der Nachrichtenagentur AFP. «Wenn es umgesetzt wird, würde es die Unabhängigkeit der Justiz und die Gewaltenteilung in Tunesien beenden und damit auch das demokratische Experiment in diesem Land.»

Saïed hatte im Juli 2021 unter Berufung auf Notstandsgesetze die Regierung und das Parlament des nordafrikanischen Landes entmachtet. Der Präsident regiert seither per Dekret. Im Oktober setzte er zwar eine neue Regierung ein, deren Vollmachten jedoch sehr begrenzt sind. Das Parlament ist weiterhin suspendiert.

Insbesondere die Ennahdha hatte das Vorgehen als «Putsch» verurteilt. Unter den Demonstranten am Sonntag in Tunis waren auch viele Ennahdha-Anhänger. Auf Plakaten forderten siedie Freilassung des ehemaligen Justizministers Noureddine Bhiri und des ehemaligen Beamten des Innenministeriums, Fathi Baldi.

Die beiden Ennahdha-Politiker waren am 31. Dezember von Polizeibeamten in Zivil verhaftet und später wegen «Terrorismus»-Delikten angeklagt worden. Der 63-jährige Bhiri, der an Diabetes, Bluthochdruck und einem Herzleiden leidet, befindet sich seit seiner Festnahme im Hungerstreik und wurde kurz nach seiner Verhaftung ins Krankenhaus eingeliefert.

Aus Frust wegen anhaltender Blockaden aufgrund der zersplitterten politischen Landschaft des Landes hatten viele Tunesier bislang den Präsidenten unterstützt. Auch die Auflösung des CSM wurde von grossen Teilen der Bevölkerung ausdrücklich begrüsst. Ezzeddine Hazgui von der Bewegung «Bürger gegen den Putsch» sieht nun einen Wendepunkt gekommen: «Am 25. Juli hatte (Saïed) viele Menschen hinter sich, jetzt ist er allein.»