Waffenruhe in Nordsyrien hält nicht überall

Der erste Tag der Feuerpause in Nordostsyrien bringt in den meisten Gebieten Ruhe - aber nicht in allen. Kurdenmilizen sagen, sie wollten doch noch nicht abziehen. Aus der EU kommt scharfe Kritik an dem Abkommen: Es sei eine Aufforderung zur Kapitulation an die Kurden.

Rauch steigt über der syrischen Stadt Ras al-Ain auf. Foto: Lefteris Pitarakis/AP/dpa - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Wenige Stunden nach Verkündung einer vorläufigen Waffenruhe im Nordsyrienkonflikt sollen bei Angriffen auf eine Grenzstadt zwei Dutzend Menschen ums Leben gekommen sein.

Rund um Ras al-Ain habe es weiterhin Granatenbeschuss und Maschinengewehrfeuer gegeben, berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Freitag. Dabei seien mindestens 14 Zivilisten und acht syrische Kämpfer getötet worden. Ansonsten sei es in vielen zuvor umkämpften Gegenden ruhig geblieben, hiess es aus Kurdenkreisen. Auch nach UN-Angaben schien die Waffenruhe weitgehend zu halten.

Der Sprecher der von den Kurden dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Mustafa Bali, sagte zu den Vorkommnissen in Ras al-Ain, dass Luft- und Artillerieangriffe weitergingen und auf die Stellungen von Kämpfern, zivile Siedlungen und das Krankenhaus zielten. «Die Türkei verletzt das Abkommen zur Waffenruhe, indem sie seit letzter Nacht die Stadt weiter angreift», schrieb er auf Twitter.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte auf die Frage nach Gefechten am Freitag in Istanbul, das sei «Spekulation und Desinformation». US-Präsident Donald Trump twitterte am Abend (MESZ), Erdogan habe ihm «gerade» in einem Telefonat gesagt, es habe sich um geringfügige Schiessereien gehandelt, die schnell unterdrückt worden seien. «Er ist sehr daran interessiert, dass die Waffenruhe, oder Pause, funktioniert», schrieb Trump.

Die Türkei hatte am 9. Oktober zusammen mit verbündeten syrischen Rebellen einen Feldzug gegen die Kurdenmiliz YPG im Norden des Landes begonnen. Die Türkei betrachtet die YPG, die an der Grenze zur Türkei ein grosses Gebiet kontrolliert, als Terrororganisation.

Für die USA waren die Kurdenkämpfer lange enge Verbündete im Kampf gegen die Terrormiliz IS. Am Donnerstagabend vereinbarten die USA und die Türkei eine fünftägige Feuerpause, die von den Kurden zunächst akzeptiert zu werden schien. Sie soll den Kurdenmilizen Gelegenheit geben, sich aus einer sogenannten Sicherheitszone zurückzuziehen, die die Türkei an der Grenze errichten möchte.

Aus Kreisen der SDF hiess es aber am Freitag, der Abzug habe noch nicht begonnen, während Erdogan vor Journalisten das Gegenteil behauptete. Die Kämpfer würden erst abziehen, wenn sich die Türkei in allen Gebieten an die Feuerpause halte, hiess es aus der SDF. Man verwies auf die Berichte aus Ras al-Ain. Am Vorabend hatte die SDF-Führung auch gesagt, dass türkische Präsenz in der Gegend nicht akzeptiert werde.

Aussenminister Heiko Maas (SPD) rief am Freitag beide Seiten zu einer diplomatischen Lösung auf. «Es ist gut, wenn die Waffen schweigen», sagte Maas in Berlin. «Das gibt die Gelegenheit, die vielen offenen Fragen im Dialog mit friedlichen Mitteln anzugehen, und dazu brauchen wir die aufrichtige Bereitschaft von allen Seiten.» An der Position Deutschlands und der EU habe sich nichts geändert: «Wir fordern die Türkei nach wie vor mit Nachdruck auf, ihr militärisches Vorgehen zu beenden, ihre Streitkräfte zurückzuziehen und das humanitäre Völkerrecht zu beachten.»

Ihre «verschärfte Rüstungsexportpolitik gegenüber der Türkei» will die Bundesregierung zunächst aufrechterhalten. Noch seien viele Fragen zu den politischen Folgen der türkischen Militäroffensive ungeklärt, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin.

EU-Ratschef Donald Tusk wiederum kritisierte die von der Türkei und den USA vereinbarte Feuerpause scharf. «Diese sogenannte Waffenruhe ist nicht das, was wir erwartet haben», sagte Tusk am Freitag zum Abschluss des EU-Gipfels in Brüssel. «Das ist in Wirklichkeit kein Waffenstillstand, .» Man appelliere erneut an die Türkei, die Militäraktion sofort zu stoppen und Truppen zurückzuziehen. Dieses Ergebnis werde mit den Absprachen von US-Vizepräsident Mike Pence mit dem türkischen Präsidenten Erdogan mit Sicherheit nicht erreicht.

Pence hatte in einer Pressekonferenz in Ankara am Donnerstagabend auch in Aussicht gestellt, dass die Türkei nach dem «vollständigen Abzug» der Kurdenmilizen ihren Militäreinsatz ganz stoppen werde. Die gemeinsame Erklärung, die auf ein einzelnes Blatt Papier passt, liess allerdings viele Fragen offen.

Unklar ist beispielsweise, ob alle Parteien über das gleiche Abzugsgebiet sprechen - oder ob sich hier ein fundamentaler Webfehler abzeichnet, der das vage formulierte Abkommen schnell entwerten könnte.

Für die kurdischen Kräfte im Nordosten Syriens gelte das Abzugsgebiet nur für die Region zwischen den Städten Ras al-Ain und Tall Abjad, sagte SDF-Kommandant Maslum Abdi. Erdogan sagte allerdings, seine Regierung erwarte den vollständigen Rückzug der kurdischen Kämpfer von der syrisch-türkischen Grenze. Er sprach von einem 32 Kilometer breiten und 444 Kilometer langen Gebiet. Das entspricht der «Sicherheitszone», und die sie mit ihrer am 9. Oktober begonnenen Offensive hatte erreichen wollen. Aus türkischer Sicht beginnt sie am Euphrat-Fluss und erstreckt sich gen Osten bis an die irakische Grenze.

Erdogan sagte: «Bei den gestrigen Gesprächen haben wir uns darauf geeinigt, dass innerhalb dieser 120 Stunden (fünf Tage Waffenruhe) diese Region evakuiert werden soll.» Später warnte er in einer Runde mit internationalen Journalisten, dass die Türkei ihre Offensive «noch sehr viel entschlossener» wiederaufnehmen werde, sollte der Abzug nicht wie versprochen ablaufen.

Weitere offene Fragen sind, wann die Kurdenkämpfer nun abziehen wollen - und wo sie unterkommen sollen. Unklar ist auch, was mit syrischen Regierungstruppen geschieht, die auf Bitten der bedrängten Kurden vor kurzem in den Kurdengebieten angerückt waren. In dem Abkommen heisst es, die Türkei solle in der «Zone» weitgehend die Kontrolle übernehmen. Erdogan kündigte an, über das Thema am Dienstag bei einem Treffen in Sotschi auch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu sprechen. Russland ist ein Verbündeter Syriens.