Wie die 'Ndrangheta zur grössten Mafia der Welt wurde

In Italien ist von einer historischen Operation gegen die Mafia die Rede. Hunderte Verdächtige wurden festgesetzt. Doch wie wurde die kalabrische Mafia 'Ndrangheta eigentlich so mächtig? Einst verdiente sie mit Menschenraub ihr Geld.

Eine Operation der Polizei gegen die Mafia in Italien. - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Es sind Politiker, Unternehmer und sogar ein Polizist darunter: Der Polizei ist ein aufsehenerregender Schlag gegen die Mafia in Kalabrien gelungen.

Doch die Festnahme von Hunderten Verdächtigen ist nicht nur für Italien eine grosse Nachricht: Die 'Ndrangheta gilt heute als weltweit mächtigste Mafiaorganisation und kontrolliert von Dörfern in Süditalien aus grosse Teile des weltweiten Drogenhandels. In Deutschland ist sie spätestens seit den Mafiamorden von Duisburg bekannt, als sechs Menschen vor einer Pizzeria erschossen wurden.

Ein Experte der italienischen Anti-Mafia-Polizei DIA, der aus Sicherheitsgründen unerkannt bleiben will, erzählt der Deutschen Presse-Agentur vom Umfang der Einnahmen der Organisation. Demnach verdient die 'Ndrangheta nach Recherchen des italienischen Eurispes-Instituts mit dem Drogenschmuggel 300 bis 350 Millionen Euro - pro Woche.

Doch begonnen hatte die 'Ndrangheta vor Jahrzehnten mit einer in Italien mittlerweile fast verschwundenen kriminellen Aktivität: Entführungen zur Erpressung von Lösegeld. Kidnapping war in Italien nicht nur eine Sache der 'Ndrangheta. Auch Banden im ländlichen Sardinien, Terroristen wie die linksextremen Roten Brigaden und teilweise auch die sizilianische Mafia Cosa Nostra mischten mit.

Laut einem Artikel in der «Italian Review of Criminology», der sich auf Daten des Innenministeriums bezieht, wurden in einem Zeitraum von etwa 30 Jahren von 1969 an fast 700 Menschen gekidnappt - allein 1977 gab es 75 Fälle. «Es war genau so schlimm wie in Lateinamerika», sagt Domenico Di Petrillo, ein früherer Polizist für Sondereinsätze bei den italienischen Carabinieri. Er untersuchte Dutzende Entführungen in den 70er und 80er Jahren.

Die Gangster aus Kalabrien waren damals führend: Laut dem DIA-Experten landeten von den geschätzt 800 Milliarden Lira (heute etwa 413 Millionen Euro) Lösegeld, das italienische Kriminelle mit Entführungen verdienten, 65 bis 70 Prozent in den Händen der 'Ndrangheta. Dieses Geld wurde sofort wieder investiert: teilweise in Luxusgüter wie Villen oder teure Autos. Der grösste Teil wurde aber dazu genutzt, in den Kokainschmuggel einzusteigen, sagte der kalabrische Staatsanwalt Nicola Gratteri einmal dem Anti-Mafia-Ausschuss des italienischen Parlaments. Während die Cosa Nostra ein «Beinahe-Monopol» auf den Heroin-Markt hatte, sah die 'Ndrangheta in Kokain ihr «Siegerpferd», so Gratteri. Manche Mitglieder hätten 30 oder 40 Jahre lang in Lateinamerika gelebt und dort Familie, ergänzte er.

Die 'Ndrangheta infiltrierte ebenfalls den Immobilien- und den öffentlichen Bausektor. Mit Einnahmen aus der Entführung von John Paul Getty III. bauten sie etwa ein Wohnviertel an der kalabrischen Küste namens «Getty Village». Der Milliardärsenkel war 1973 als Jugendlicher in Rom entführt und fünf Monate in abgelegenen kalabrischen Bergen gefangen gehalten worden. Sein rechtes Ohr wurde abgeschnitten, um seine Familie dazu zu bewegen, 1,7 Milliarden Lira für seine Freilassung zu zahlen.

Für die Brutalität der 'Ndrangheta gibt es viele Belege. Der Kriminologe Claudio Loiodice, ein früheres Mitglied eines italienischen Spezialeinsatzkommandos, erinnert sich an seine Arbeit am Fall des Marco Fiora. Der damals Siebenjährige wurde im März 1987 entführt und erst nach 17 Monaten «harter Haft» freigelassen. Als die Polizei ihn nach der Zahlung einer hohen Summe in den Wäldern Kalabriens fand, war er unterernährt, hatte unterentwickelte Beinmuskeln, und trug dieselbe Unterwäsche, wie am Tag seiner Entführung», wie Loiodice der dpa erzählt.

Die Angst vor Entführungen war unter den italienischen Eliten weit verbreitet - speziell in den späten 1970ern. Der Höhepunkt war die Entführung und Ermordung des ehemaligen Ministerpräsidenten Aldo Moro 1978. Dafür waren allerdings die Roten Brigaden und nicht die Mafia verantwortlich. Potenzielle Ziele für Entführungen verliessen das Land - so zum Beispiel die Familie des Ex-Models Carla Bruni. Die heutige Frau des französischen Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy zog 1975 nach Frankreich.

Die «kriminelle Industrie» der Entführungen verschwand nahezu in den 90er Jahren. Mitverantwortlich dafür war ein Gesetz von 1993, das es Behörden erleichterte, die Vermögen von Verwandten der Opfer zu beschlagnahmen. Damit sollten Lösegeldzahlungen erschwert werden.

Experten zufolge gibt es noch andere Gründe, weshalb das Phänomen ausstarb: öffentliche Empörung über die Brutalität der Mafia, bessere Polizeiarbeit, härtere Strafen für Entführer und die Erkenntnis, dass Drogenschmuggel profitabler und weniger gefährlich ist. Für Entführungen brauchte man Dutzende Menschen und normalerweise warfen sie erst nach Monaten oder mehr als einem Jahr Verhandlungen Gewinn ab. «Überlegen Sie nur einmal, wie viel mehr Geld man in dieser Zeit mit Drogen verdienen könnte», sagt Ex-Carabiniere Di Petrillo.