Überschätztes Vitamin D
Vor allem im Winter nehmen immer mehr Menschen Vitamin-D-Präparate. Doch der Hype um das «Sonnenvitamin» ist womöglich völlig unbegründet.
Das Wichtigste in Kürze
- Das für Knochen und Muskeln wichtige Vitamin D wird in der Haut produziert, aber nur wenn diese genug Sonne erhält.
- Im Winter empfiehlt der Bund darum, ergänzend Vitamin-D-Tröpfchen oder Tabletten zu nehmen.
- Dies, obwohl sich Studien häufen, die keinerlei positive Wirkung von Vitamin-D-Präparaten finden können.
Um Vitamin D gibt es einen regelrechten Hype. Noch im Jahr 2013 nahmen in der Schweiz rund 300'000 Menschen regelmässig Vitamin-D-Präparate, 2017 waren es schon 840'000. Auf den ersten Blick aus gutem Grund: Die meisten von uns haben während der Wintermonate zu wenig des für die Bildung von Knochen und Muskeln wichtigen Vitamins intus. Denn 80 bis 90 Prozent unseres Bedarfs werden in der Haut produziert – allerdings nur, wenn diese genug Sonne abkriegt. Und das ist im Winter schwierig, weil die Sonne weniger lange und intensiv scheint und wir weniger draussen sind. Darum empfiehlt der Bund, genauer das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV, während des Winters zusätzliches Vitamin D zu nehmen, in Form von Tabletten oder Tröpfchen. Das soll das Risiko von Stürzen und Knochenbrüchen vermindern, zudem gab es auch Anzeichen dafür, dass das Vitamin bei der Vorbeugung gegen Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen hilft.
Zweifel kommen auf
Allerdings häuften sich in den letzten Jahren Studienergebnisse, welche diese scheinbaren Gewissheiten ins Wanken bringen. So erschien kürzlich eine Studie aus den USA, die an über 25’000 Personen untersucht hat, ob ein Vitamin-D-Präparat im Vergleich mit einem Placebo tatsächlich das Risiko für Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen senkt. Ergebnis: Nein. Schon letzten Oktober ergab eine Übersichtsstudie, die 81 einzelne wissenschaftliche Publikationen analysierte, dass die Einnahme von Vitamin-D-Präparaten gar keinen Einfluss auf die Anzahl von Stürzen und Knochenbrüchen sowie auf die gemessene Knochendichte hat. Und 2014 hatte eine weitere Übersichtsstudie festgestellt, dass ein tiefer Vitamin-D-Wert zwar mit verschiedenen chronischen Krankheiten in Zusammenhang steht, jedoch als eine Folge der Erkrankungen, nicht als deren Auslöser.
Doch diese neueren Studienergebnisse sind in den aktuellen BLV-Empfehlungen nicht berücksichtigt, denn diese stützen sich auf einen Bericht der Eidgenössischen Ernährungskommission EEK, der noch aus dem Jahr 2012 stammt. Ohnehin sind diese Empfehlungen teilweise etwas verwirrend abgefasst. Klar sind sie für ältere Menschen ab 60 Jahren: Empfohlen sind 800 Einheiten Vitamin D pro Tag während des ganzen Jahres. Weniger eindeutig sind die Informationen jedoch für Erwachsene zwischen 18 und 60 Jahren. Eine direkte Empfehlung, zusätzliches Vitamin D durch den Winter zu nehmen, gibt es nicht. Dennoch führt das BLV für diese Gruppe eine «empfohlene Tageszufuhr» von 600 Einheiten pro Tag auf.
Keine klare Empfehlung
Was heisst das also? «Hier gibt es tatsächlich keine klare Empfehlung, dafür fehlten uns die wissenschaftlichen Grundlagen», sagt Beatrice Baumer, Präsidentin der zuständigen EEK. Ob sich das mit den neuen Studienergebnissen ändert, kläre die zuständige Arbeitsgruppe in der nächsten Zeit ab. Sie soll die Resultate analysieren und prüfen, ob sie die Empfehlungen allenfalls ändert oder deutlicher formuliert. Doch so einfach sei das nicht, sagt Baumer. «Häufig konzentrieren sich die Studien nur auf einzelne Bevölkerungsgruppen oder beziehen die Sommer-Winter-Schwankungen nicht mit ein.» So bildeten die Studien die Realität nur unzureichend ab und seien für sie kaum eine Hilfe.
Zudem werde beim Vitamin D die Sache dadurch komplizierter, dass das Sonnenlicht bei dessen Bildung eine entscheidende Rolle spielt. Darum seien die Empfehlungen auch abhängig davon, wie häufig Menschen sich draussen aufhalten und ob sie sich dabei mit Sonnencreme oder Hüten vor der Sonne schützen. «Bei älteren Menschen wissen wir, dass sie weniger Zeit an der Sonne verbringen», sagt Baumer. Deshalb sind für sie die Empfehlungen eindeutiger als bei jüngeren Erwachsenen. Am Ende bleibt so vor allem die Erkenntnis, dass an einer klaren Empfehlung für oder gegen Vitamin-D-Tröpfchen offenbar gar nichts klar ist.
Initiated by Gebert Rüf Stiftung