Trockene Alkoholiker haben Angst vor Weihnachts-Rückfall

Die Nächte sind lang und kalt, und an jeder Ecke lockt der Glühwein: Die Weihnachtszeit ist für Alkoholkranke nicht einfach. Ein Betroffener erzählt.

In der Weihnachtszeit riecht es überall nach Glühwein. Für viele trockene Alkoholkranke eine grosse Herausforderung. (Symbolbild) - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Die Weihnachtszeit ist für viele trockene Alkoholkranke eine grosse Herausforderung.
  • Ein Betroffener erzählt, er konnte jahrelang nicht einmal an Glühweinständen vorbeigehen.
  • Auch nach 30 Jahren ohne Alkohol bleibt bei ihm die Angst, rückfällig zu werden.

«In der Weihnachtszeit kommt viel Selbstmitleid auf, und der Drang zu trinken ist grösser», sagt der Walliser Siegfried R. «Fast sechs Jahre lang konnte ich an Glühweinständen nicht einmal vorbeigehen. Ich wusste, wenn ich trinke, kann ich nicht mehr aufhören.»

R. ist 74 Jahre alt und trockener Alkoholiker. Obwohl er seit Jahren keinen Tropfen getrunken hat, begleitet ihn die Angst, rückfällig zu werden, bis heute – «das bleibt. Gerade in der Weihnachtszeit gibt es überall Einladungen, zu trinken», sagt er.

1,50 Franken für einen Liter Glühwein: Solchen Angeboten entkommen Alkoholkranke in der Weihnachtszeit kaum. - Nau.ch

«Für abstinente Alkoholkranke ist die Weihnachtszeit eine riesige Herausforderung», betont auch Susanne Loepfe vom Blauen Kreuz. «Überall gibt es Glühwein, und man wird ständig in der Gruppe zum Trinken verführt.»

Durch Tiefpreis-Angebote wird das Problem noch verschärft: Der Discounter Lidl zum Beispiel bietet einen Liter Glühwein für 1,50 Franken an. «Jenseits von Gut und Böse», urteilt Ruedi Löffel vom Blauen Kreuz.

«Es gibt Betroffene, die Glühwein nur riechen müssen, um getriggert zu werden», gibt Loepfe zu bedenken. «Fangen sie einmal an, ist die Gefahr gross, dass sie kaum stoppen können.»

«Es war nur noch ein Saufen bis zum Ende»

Die Suchtprobleme von Siegfried R. beginnen, als er mit 34 Jahren in Brig VS KV-Lehrer wird. «Ich habe mich dort nicht wohlgefühlt», erinnert er sich bei Nau.ch.

Beim regelmässigen Feierabendbier mit den Arbeitskollegen merkt er plötzlich: «Durch den Alkohol fühle ich mich erleichtert.» Seine Probleme wachsen, er trinkt immer mehr. Nach ein paar Jahren fängt er mit dem heimlichen Rauschtrinken an.

Als er 40 ist, verliert er seinen Job. «In der Schule trank ich zwar nie, aber man sah mich in der Freizeit herumtorkeln. Das kam schlecht an.» Zudem habe er durch den Alkohol immer schlechter gearbeitet.

Nach der Entlassung erreicht er seinen «absoluten Tiefpunkt», entkommt mehrmals knapp dem Tod. «Im Winter wäre ich einmal fast erfroren, hätte mich nicht eine Frau draussen am Boden gefunden», erzählt er.

Er überlebt – und trinkt weiter. «Ich konnte nicht mehr vernünftig denken, hatte keine Einsicht. Es war nur noch ein Saufen bis zum Ende.»

«Entweder sterbe ich oder ich trinke nicht mehr»

Siegfried R. wird schliesslich mit Magenblutungen ins Spital eingeliefert, er schwebt in Lebensgefahr. «Jetzt hatte ich noch zwei Optionen. Entweder sterbe ich oder ich trinke nicht mehr.»

Dem Walliser gelingt «ein kleines Wunder», wie er sagt: Er startet eine Gruppentherapie bei den Anonymen Alkoholikern und krempelt sein Leben um. «Ich habe inzwischen seit 30 Jahren nichts mehr getrunken», sagt er.

Was R. heute von der Krankheit noch bleibt, sind die Rückfallängste – und manchmal dunkle Gedanken. «Ich bereue, dass ich nie eine Familie gründen konnte», sagt er. «Aber ich weiss auch, dass das nicht funktioniert hätte, ich konnte ja kaum für mich selbst sorgen.»

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Heute kann er mit solchen Gefühlen umgehen. «Ich bin vor allem froh, dass ich ausgestiegen bin. Und es hat auch positive Seiten, dass ich keine Kinder hatte.»

Nachdem R. trocken wird, arbeitet er als Primarlehrer in Zermatt – und steckt viel Energie in den Job. «Ich gab den Kindern in meiner Freizeit gratis Nachhilfe. Dafür hatte ich die Zeit, weil ich selbst keine Familie hatte», sagt er.

«Ich habe den Kindern immer gesagt, sie sollen nie trinken.» Bis heute arbeitet der 74-Jährige in der Suchtprävention. Dafür engagiert er sich bei den Anonymen Alkoholikern und in der Kirche. «Ich will so vielen Menschen wie möglich zeigen, dass sie es schaffen können.»

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