Daniel Koch: «Schweiz sollte am Ende nicht der Profiteur sein»
«Die Schweiz darf sich nach der Bürgenstock-Konferenz nicht zurücklehnen und warten, dass andere bezahlen und die Arbeit erledigen», findet Daniel Koch.
Das Wichtigste in Kürze
- Nau.ch-Kolumnist Daniel Koch ist in der Ukraine unterwegs.
- Der Krieg sei auch abseits der Front in aller Brutalität zu spüren.
- In seiner Kolumne äussert sich «Mister Corona» auch zur Rolle der Schweiz.
Die Ukraine-Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock vom 15. und 16. Juni hat viel weltweites Aufsehen, Lob und Kritik ausgelöst. Ich bin an diesen beiden Tagen in die Ukraine gefahren.
Und nun sitze ich hier, fünf Kilometer von der russischen Grenze entfernt, in einem kleinen Weiler nahe der Ortschaft Druschba, die an der Bahnlinie nach Russland liegt.
Über die Grenze fahren seit dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine keine Züge mehr. Aber auch die Zugverbindungen nach Kiew werden immer spärlicher. Bis vor ein paar Monaten gab es noch eine direkte Verbindung, die wurde aber eingestellt. Wegen der Gefahr durch den häufigen russischen Bombenbeschuss will auch das Zugpersonal nicht mehr nach Druschba fahren – und es gibt auch fast keine Fahrgäste mehr.
Wir sind zwar an der russischen Grenze, aber nicht an der Front. Denn: Hier gibt es und gab es auch während der russischen Offensive keine strategischen Ziele. Und doch ist der Krieg in aller Brutalität zu spüren.
Russen: Rathaus gezielt beschossen
Fast täglich fliegen Mörser und Kanonengeschosse über die Grenze. Meistens landen die Bomben irgendwo in den freien Feldern, selten wird ein Gebäude oder die Ortschaft getroffen.
Vor Monaten wurde zweimal gezielt das Rathaus beschossen. Beim ersten Mal im Oktober 23 brannten die Büros der Gemeindeverwaltung fast vollständig aus. Im März schlug eine grosse Fliegerbombe ein, hinterliess einen riesigen Krater, pustete den Rest des Gebäudes weg.
Wie zerstörerisch die russischen Bomben sind, zeigen auch die Ruinen der alten Zuckerfabrik. Sie ist schon seit der Sowjetzeit ausser Betrieb und die riesigen Backsteingebäude waren ungenutzt am Zerfallen.
Mehrere schwere Bomben haben die leeren Gebäude in eine bizarre Ruinenlandschaft verwandelt und alle Fensterscheiben der umliegenden Wohngebäude zerstört.
Angst und Schrecken im Ukraine-Krieg
Warum die Russen das Fabrikgelände inmitten des Städtchens bombardierten, ist unklar. Man sagt, die Gegenden an der Grenze im Nordosten würden zu Übungszwecken beschossen.
Sicher ist, sie verbreiten Angst und Schrecken. Sie vertreiben die Bevölkerung und verhindern das Bestellen der Felder. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat die Gegend verlassen. Die letzten fünf Kilometer vor der Grenze sind Sperrzone.
Nur noch 100 Schulkinder
Von den 500 Schulkindern in Druschba sind noch 100 übrig geblieben. Aber die Schule konnte seit der Coronapandemie nicht wieder geöffnet werden. Es wird über das Internet unterrichtet.
Es ist einfach nur traurig, denn das schmucke Schulhaus mit den farbig bemalten Wänden könnte so auch in jeder Schweizer Ortschaft stehen. Nun hoffen alle, dass keine Bombe das Schulhaus trifft und die Kinder eines Tages zurückkommen können.
Es ist wie in vielen Kriegen. Elend, Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit breiten sich wie eine Seuche aus. Es sterben viel zu viele Soldaten an der Front und viel zu viele Zivilisten durch die Bomben.
Viel zu viele mussten ihr Zuhause verlassen und versuchen, als Flüchtlinge neuen Halt zu finden. Und dann sind da noch all jene, die nicht flüchten können oder flüchten wollen, weil sie nicht wissen, wohin. Oder weil sie alt sind und zu stark an ihrem Häuschen und Garten hängen. Sie leben in Gegenden und Ortschaften wie Druschba, wo die russische Kriegsführung das Leben der Zivilgesellschaft langsam zu ersticken versucht.
Ich bin kein Kriegsreporter
Ich bin kein Kriegsreporter und suche auch nicht den Adrenalinkick einer gefährlichen Situation. Ich besuche Druschba aus familiären Gründen und berichte, was ich hier sehe und höre.
Ich habe auch wunderbare Menschen und Behörden angetroffen, die alles versuchen, das Leben im Kriegsgebiet weiterhin so gut und so normal wie möglich zu gestalten.
Träume von baldigem Frieden sind weit weg
Wir haben gemeinsam bei einem Bier den EM-Match Ukraine – Slowakei (2:1) angeschaut und uns natürlich enorm über den ukrainischen Sieg gefreut. Über den Sieg der Ukraine im Krieg gegen den russischen Aggressor sprechen wir wenig. Denn alle wissen, dass dies nicht vom Mut der Ukrainer, sondern von der Unterstützung durch den Westen abhängt. So sind die Hoffnungen und Träume von einem baldigen Frieden im Moment weit weg.
Umfrage
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Der Bundesrat hat mit der Organisation einer Friedenskonferenz sicher einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung getan.
In einer Welt, in der die Werte wie Freiheit und Selbstbestimmung für jeden Einzelnen nur allzu leicht einem falschen Patriotismus, Macht, Stärke und Gewalt geopfert werden, kann nur das gemeinsame Einstehen für den Respekt des internationalen Völkerrechts den Frieden bringen.
Schweiz sollte am Ende nicht als Profiteur dastehen
Aber die Schweiz darf sich jetzt nicht zurücklehnen und warten, dass andere bezahlen und die Arbeit erledigen.
Ein Ende des Krieges wird kommen. Dann sollte die Schweiz nicht als Kriegsprofiteur dastehen. Dann muss sie zeigen, dass sie sich für die richtige Seite entschieden hat.
Neutralität darf nicht das passive Zusehen und das wirtschaftliche Profitieren bedeuten. Wir sollten vielleicht nicht vergessen, dass vor 80 Jahren die Welt vom Faschismus befreit wurde. Nicht durch die Neutralität, sondern durch den aufopfernden Einsatz der alliierten Streitkräfte.
Auf der Seite der Alliierten kämpften sieben Millionen ukrainische Soldaten, drei Millionen davon verloren ihr Leben.
Zum Autor: Daniel Koch war zwischen 2008 und 2020 Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten beim Bundesamt für Gesundheit (BAG). Er ist der Öffentlichkeit als «Mister Corona» bekannt und schreibt nun regelmässig Kolumnen auf Nau.ch. Koch lebt im Kanton Bern und hat im letzten Jahr die Ukrainerin Natalia geheiratet.