Vor 30 Jahren: «The Wall» in Berlin
Der Andrang ist gigantisch. Kurz nach dem Mauerfall inszeniert Roger Waters den Pink-Floyd-Erfolg «The Wall» in Berlin. Den Zugang zum Spektakel auf dem ehemaligen Todesstreifen öffnet ein spezielles Codewort.
Das Wichtigste in Kürze
- Mit verzweifelter Geste recken sich die betenden Hände in Richtung Himmel.
Roger Waters scheint alle Kräfte anflehen zu wollen, um das musikalische Spektakel zu retten.
Hunderttausende stehen vor der Bühne in Erwartung einer gigantischen Show des Ex-Bassisten der britischen Bombastrocker Pink Floyd. Der Beginn von «The Wall» in Berlin wird von Stromausfällen und Soundproblemen geprägt. Doch dann klappt es: am 21. Juli vor 30 Jahren läuft auf dem gerade erst geräumten Todesstreifen eine spektakuläre Inszenierung.
Es wird ein historischer Moment werden: ein wahrhaft deutsch-deutsches Konzert auf dem Boden beider noch existierender Staaten. Die Mauer ist gerade mal acht Monate offen, bis zur Einheit sind es noch zehn Wochen. Das Grusswort zum Konzert kommt von gleich zwei Bürgermeistern: Walter Momper (West) und Tino Schwierzina (Ost). Für die Sicherheit sorgen 400 West-Beamte und 1600 Volkspolizisten.
Auch der Ort steckt voller Geschichte. Um auf gigantischen Konstruktionen eine Bühnenmauer bauen zu können, müssen noch rasch Teile der alten Mauer verschwinden. Das Gebiet zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor wird nach Minen des Grenzstreifens abgesucht. Eine kleine Erhebung am Rand, von Zuschauern des Konzerts gegen die sonst schlechte Sicht genutzt, verdeckt die Überreste von Nazi-Bunkern. Jahre später wird auf dem Gelände das Holocaust-Mahnmal entstehen.
Auch «The Wall» hat keine einfache Geschichte. Das 1979 erschienene Konzeptalbum von Pink Floyd wird zum erfolgreichsten Doppelalbum überhaupt. Die Rechte liegen bei Roger Waters, von dem fast alle Stücke stammen. Anfang der 80er Jahre trennen sich Pink Floyd und Waters, zu dem Zeitpunkt hat «The Wall» als Bühnenspektakel schon in Los Angeles, New York, London und Dortmund begeistert. Berlin bekommt zumindest musikalisch einen ersten Eindruck: Beim Konzert vor dem Reichstag spielt Pink Floyd 1988 in Schallnähe zur Mauer mit «Another Brick In The Wall (Part 2)» den Mega-Hit des Albums.
Waters will «The Wall» eigentlich nicht nochmal auf die Bühne bringen. Eher flapsig schränkt er ein: vielleicht doch, wenn die Mauer fällt. In Berlin. Mit den unerwarteten Ereignissen vom November 1989 wird das Projekt sehr schnell real. Offizieller Anlass wird dann eine Spendenaktion der britische Organisation für Katastrophenhilfe «Memorial Fund For Disaster Relief». Alle Künstler spielen ohne Gage.
Das Spektakel soll mit grossen Namen besetzt werden. Doch Waters kassiert zunächst Absagen von Peter Gabriel, Bruce Springsteen, Eric Clapton über Rod Stewart bis zu Joe Cocker. Die endgültige Besetzung aber geizt nicht mit grossen Namen: die Scorpions sind dabei, Ute Lemper, Cyndi Lauper, Sinéad O'Connor, Joni Mitchell, James Galway, Bryan Adams, Jerry Hall, Van Morrison, Tim Curry, Marianne Faithfull, Albert Finney, The Band, The Hooters übernehmen Teile oder ganze Songs des Opus. Dazu ein Sinfonieorchester und -chor sowie eine russische Militärkapelle.
Entsprechend gross ist der Andrang. Organisator Peter Rieger erinnert sich später an «ungefähr 220.000» für 35 Mark verkaufte Karten. Aber nach seiner Schätzung standen 100.000 bis 150.000 Leute ohne Karten am Einlass teilweise noch vor den zahlenden Besuchern. Das für diesen Fall vereinbarte Codewort sorgt dafür, dass - wie einst beim legendären US-Festival - die Ordner die Zäune öffnen: «Woodstock».
Etwa 320.000 Menschen sind schliesslich Zeugen eines einmaligen Bühnenspektakels für rund 7,5 Millionen Dollar. Per Liveübertragung kann rund eine Milliarde Fernsehzuschauer weltweit zusehen. Musiker fahren mit Stretchlimos und schweren Motorrädern auf die Bühne, ein Hubschrauber überfliegt die Szenerie, Krankenwagen, Militärlaster und Tieflader bringen Bands und Statisten für die einzelnen Stücke.
Die Songs erzählen die Geschichte des jungen Musikers Pink, der sich mehr und mehr von Einfluss und Grausamkeiten seiner Umgebung abschottet, jedes negative Erlebnis wird ein weiterer Stein einer Mauer der Isolation, die er um sich errichtet. Im ersten Teil der knapp zweistündigen Show wird «The Wall» aus 2500 Styropor-Blöcken quer über den alten Mauerverlauf wachsen. Publikum und Band sind jetzt getrennt von einem 168 Meter langen und 25 Meter hohen Monstrum.
Van Morrison muss seine eindringliche Fassung von «Comfortably Numb» für das Publikum nicht sichtbar gegen die Mauer singen. Dafür teilen sich Rick Di Fonzo und Snowy White das epochale Gitarrensolo des Stücks auf zwei Plattformen hoch über dem Mauerrand. Jubel.
Das Bauwerk bietet beste Projektionsfläche für Szenen und Figuren, die schon Alan Parker in seiner Filmfassung von 1982 einsetzte. Gigantische Aufblaspuppen wachsen über die Mauerkuppe: die herrische Mutter, der autoritäre Lehrer, ein riesiges Schwein, bei Waters ein Symbol für den schrecklichen Staat. Der apokalyptische Horror aus Pinks Fantasie manifestiert sich im Aufmarsch einer faschistischen Armee. Massen in schwarzer Uniform mit Standarten. Mitten in Berlin.
Zum grossen Finale kommt der parolenartig gesungene Beschluss: «Tear Down the Wall!». Reisst die Mauer ein! Feuerwerk. Donnergrollen. Projektionen der echten Mauer. In rasender Geschwindigkeit fallen die Styropor-Blöcke, die Mauer stürzt in sich zusammen. Auch diese. Schon das muss in Berlin tief berühren.
Waters setzt noch einen drauf. Gemeinsam mit den Stars des Abends singt er in den Trümmern «The Tide Is Turning» (Das Blatt wendet sich). Einer der emotionalen Höhepunkte in diesen Wendezeiten. Das Stück gehört zwar nicht zu «The Wall», Waters schreibt es später für ein anderes Album. Aber egal, in der Erinnerung wird das alles verschmelzen.