Coronavirus: R-Wert-Zoff ruft Politiker auf den Plan
Die Fallzahlen sinken, der R-Wert steigt. Politiker wie FDP-Nationalrat Marcel Dobler reiben sich die Augen. Corona-Orakel Martin Bäumle bleibt optimistisch.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Reproduktionszahl steigt wieder über 1. BAG-Mann Mathys spricht von Pseudo-Exaktheit.
- FDP-Nationalrat Marcel Dobler hegt den Verdacht, dass bewusst «scharf» berechnet werde.
- Corona-Experte Martin Bäumle (GLP) sagt, die Schweiz befinde sich noch «im Sinkflug».
Nach einem langsamen, aber stetigen Sinkflug steigt die Zahl der Neuinfizierten mit dem Coronavirus wieder an. Das zumindest suggeriert der jüngst vom BAG publizierte R-Wert. Die Reproduktionszahl liegt für den 22. Januar nämlich bei 1,01.
Die Zahl bildet das Infektionsgeschehen von vor rund zehn Tagen ab. 100 Infizierte steckten demnach 101 weitere Personen an. Das Problem: Die Zahlen sanken zumindest bis am Mittwoch munter weiter. Das sorgte selbst bei Gesundheitsminister Alain Berset und BAG-Mann Patrick Mathys für Verwirrung.
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YouTube/Der Schweizerische Bundesrat - Bundesrat Alain Berset und Patrick Mathys vom BAG diskutieren über den R-Wert.
Dennoch bleibt der von der ETH berechnete R-Wert für den Bundesrat weiterhin zentral. Basierend auf der Zahl trifft die Landesregierung Entscheide über Schliessungen ganzer Branchen und Zeitpunkte für allfällige Lockerungen. Deshalb gerät er auch verstärkt in den Fokus der Politik.
FDP-Nationalrat: «Das ist nicht nachvollziehbar»
Einer, der den R-Wert auch selbst berechnet, ist FDP-Nationalrat Marcel Dobler. Er kommt dabei aber auf völlig andere Resultate als die ETH. «Es ist nicht nachvollziehbar, wie die Behörden kommunizieren, dass 100 Infizierte 101 Personen anstecken, wenn die Ansteckungszahlen wöchentlich um über zehn Prozent sinken», sagt er.
Gemäss Doblers Einschätzung müsste der aktuelle R-Wert bei etwa 0,85 liegen – und nicht bei über 1. «Niemand scheint zu wissen, was alles in diese Berechnung einfliesst», so der Präsident des Verbands ICT Switzerland. Er pocht deshalb auf Transparenz.
Die Covid-19-Taskforce erklärte die Methodik auf Anfrage von Nau.ch – dürfte mit der komplizierten Antwort aber mehr Verwirrung als Klarheit gestiftet haben.
Corona-Papst Bäumle beobachtet «Sinkflug»
Gespannt verfolgt auch GLP-Nationalrat Martin Bäumle die Entwicklung des R-Werts. Der Zürcher stellt selbst umfangreiche Berechnungen an, um den Verlauf der Pandemie einschätzen zu können. Mit seinen Prognosen lag er meist besser als die Behörden.
«Ich stütze mich bei meinen Berechnungen zusätzlich auf die Viralität. Dieser Wert sagt, wie viele Personen aktuell ansteckend sind», erklärt Bäumle. Im Moment seien das gewichtet etwa 0,25 Prozent der Bevölkerung. Das sei noch zu hoch, um über Öffnungen zu diskutieren.
Doch der Atmosphärenwissenschafter ist optimistisch: «Wir sind aktuell noch im Sinkflug, das ist gut. Es ist denkbar, dass wir Ende Februar auf einem soliden Level der Fallzahlen sind.» Doch was sagt der «Corona-Papst» des Parlaments zum R-Wert?
Dieser sei «nicht alleine seligmachend», so Bäumle. «Bei tiefen Fallzahlen ist ein Wert um 1 vertretbar, bei hohen Fallzahlen muss er dauerhaft deutlich unter 1 bleiben.» Aktuell unterliege die Zahl grossen Schwankungen. «Ich weiss aber auch nicht, was die ETH alles in diese Berechnung miteinbezieht», erklärt der Nationalrat.
Die jüngsten Werte um 1 entsprächen aber seinen Modelldaten. Bäumle hofft nun auf den Frühling mit wärmeren Temperaturen. Das könnte die Zahl der Neuinfektionen positiv beeinflussen, glaubt er.
«Wird Berechnung bewusst verschärft?»
Auch FDP-Mann Dobler zeigt sich optimistisch. Doch der Ärger über den R-Wert und daraus abgeleiteten Massnahmen ist gross. «Weil die Zahlen stetig sinken, kommt der Verdacht auf, dass die Berechnung bewusst verschärft wird», sagt er. Ein höherer R-Wert dient dem Bundesrat «als Argumentation um den Lockdown zu verlängern».
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Was halten Sie von der Reproduktionszahl?
Wer im Streit um den R-Wert Recht erhält, dürften die nächsten Tage zeigen. Sicher ist: Das Vertrauensintervall ist gross. Gemäss ETH-Berechnungen lag er am 22. Januar nicht genau bei 1,01, sondern zwischen 0,86 und 1,13.