«Gewöhnungsbedürftiger» Auftakt mit etwas «DDR-Stimmung»
In der Bernexpo Halle in Bern startete heute die Sondersession des Parlaments. Die Politiker mussten sich umgewöhnen.
Wenn ein Feldstecher zu den Ratsutensilien gehört und eine SP-Grösse von «DDR-Stimmung» spricht, dann ist ausserordentliche Session des eidgenössischen Parlaments in der Bernexpo. «Gewöhnungsbedürftig» ist die meistgehörte Befindlichkeit auf dem Berner Messegelände.
Erwartet werden die anrückenden Volksvertreterinnen und -vertreter unter einem freundlichen Morgenhimmel von zahlreichen Journalisten, Kameraleuten und Fotografen.
Sie fragen nach erste Eindrücken und Gefühlslagen zum neuen Ambiente. FDP-Fraktionschef Beat Walti sagt, er sei sehr neugierig, wie das Ganze ablaufen werde. Er ist nicht der einzige.
Vor allem informell werde diese Session für die Gruppen angesichts der räumlichen Umstände wohl anders als sonst. Die Kommunikation untereinander werde aufwendiger. «Der E-Mail-Verkehr wird sicher zunehmen.»
Der ehemalige Radprofi Rocco Cattaneo, der jetzt für die Tessiner FDP im Nationalrat politisiert, lässt sich auf dem Rennrad ablichten, mit dem er zuvor auf das Messegelände einbog. In Sichtweite von Stade de Suisse und Postfinance-Arena, wo die Sportskollegen vom Fussball und Eishockey wegen Corona um ihre Zukunft bangen und auf Staatshilfe hoffen.
Eine gute Stunde, nachdem Nationalratspräsidentin Isabelle Moret die Session um 10 Uhr mit den Worten «Diese Session wird in die Geschichte der Schweizer Demokratie eingehen» eröffnet hat, schildern Nationalräte draussen auf den Gängen ihre ersten Eindrücke. Sie sind sich weitgehend einig: es geht disziplinierter, aber auch distanzierter zu und her, der Raum ist riesig.
Sinnbildlich dafür ist der Moment, in dem die Baselbieter SVP-Nationalrätin Sandra Sollberger das weite Rund des Saales mit einem Feldstecher absucht.
«Im Bundeshaus ist es oft so laut, dass man am Abend Kopfweh hat», erinnert sich der Basler SP-Nationalrat Beat Jans vor der Tür zur «Riesenhalle». Hier sei es viel ruhiger, die Akustik jedoch sei gewöhnungsbedürftig.
Der Kontrast zum Nationalratssaal im Bundeshaus mit all den Papierbergen auf den einzelnen, viel kleineren Pulten ist offensichtlich. Die Betriebsamkeit sei dort auch viel grösser, weil ständig Dokumente verteilt würden, so Jans.
«Fasch gäbiger» sei es in der Bernexpo, sagt der Berner SVP-Nationalrat Heinz Siegenthaler. Er schätzt die grosszügigen Platzverhältnisse. Alles scheine ihm disziplinierter und es gebe weniger «es Glöif». Das Raumklima habe aber noch Luft nach oben, es sei etwas zu warm.
Die Vorträge im Saal nehmen ihren Lauf und ziehen sich hin. Um den Mittag herum häufen sich die Dreicksgespräche in den Gängen und Verpflegungsecken der Messehallen. Mancher Magen knurrt. Würde man allerdings einen Massstab zwischen die Diskutanten legen, so wäre der Sicherheitsabstand von zwei Metern wohl nur in den wenigsten Fällen eingehalten.
Sie nehme eine gewisse Ehrfurcht vor den Dimensionen wahr, beschreibt die Grüne Basler Nationalrätin Sibel Arslan bei einem kurzen Schwatz ihre ersten Eindrücke. Und es sei spannend, weil noch niemand genau wisse, wie es laufen werde. Die Hemmschwelle für etwas heftigere Auseinandersetzungen könnte deshalb zumindest am Anfang der Session höher sein, so ihre Vermutung.
Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga jedenfalls lässt sich kurz zuvor vom Zürcher SVP-Nationalrat und «Weltwoche»-Verleger Roger Köppel nicht aus der Reserve locken und pariert dessen Attacke Richtung Bundesrat ruhig und kurz.
Masken sind - ausser zeitweilig bei der Bündner SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher und bei Stefanie Prezioso Batou (Sol/GE) - nicht auszumachen. Ihr Zürcher Parteikollege Thomas Matter enthüllte wartenden Journalisten bei seiner Ankunft am Morgen, er habe Schutzmasken dabei und zeigt auf seine Tasche. Sobald er das Gefühl habe, es rücke ihm ein Kollege zu stark auf die Pelle, werde er eine anziehen. Sein Grenzwert liegt bei 1,5 Metern.
Dem grünen Zürcher Nationalrat Bastien Girod ist es diesbezüglich offenbar bei seiner Anreise mit dem öffentlichen Verkehr etwas «gschmuech»geworden, wie der Berner sagen würde. Social Distancing könne bereits jetzt nicht mehr eingehalten werden, lässt er per Twitter wissen. «Trotzdem trägt praktisch niemand Masken, nicht einmal der Kondukteur.» Der Bundesrat solle endlich Klarheit schaffen. In öV brauche es Maskenpflicht.
So rückt die Zeit gegen 14 Uhr vor. In Kürze nimmt auch der Ständerat die Arbeit im neuen Ambiente auf. In der fast leeren Cafeteria im zweiten Stock stärkt sich SP-Parteipräsident und Ständerat Christian Levrat noch kurz mit einem Sandwich. Vor der Ausgabe wirbt der Caterer auf einem Panel mit «Ausgewogene Mahlzeiten für aussergewöhnliche Zeiten».
«Ein bisschen DDR-Stimmung», lautet Levrats pointierte Antwort auf die Frage nach seinen ersten Eindrücken von der neuen Location. Er sei zwar sehr froh, dass sich National- und der Ständerat wieder treffen könnten. Aber es sei alles sehr formell; er befürchte, dass die formellen Gremien mehr Bedeutung erhalten würden in dieser Umgebung.
«Die Politik lebt von Zwischengesprächen und schnellen Abmachungen», betont der Freiburger Ständerat. Die soziale Distanz in den riesigen Räumlichkeiten kille diesen Mechanismus. Auch SVP-Präsident Albert Rösti findet, spontan zu reagieren, sei hier schwieriger. Man sei sehr anonym im Saal.
Auf der Dachterrasse neben der Cafeteria verdrückt die Urner FDP-Ständerätin und ex-Bundesratskandidatin Heidi Z'graggen eine Banane und raucht noch eine Zigarette. Um 14 Uhr eröffnet Ständeratspräsident Hans Stöckli mit dem ihm eigenen Enthusiasmus die Session im «Stöckli».