Patienten in St. Urban ab 1950 zu Medikamententests überredet

Zwischen 1950 und 1980 hat das Personal der psychiatrischen Klinik St. Urban LU Medikamente an Patienten getestet. Laut einem Bericht wurden die Betroffenen teilweise dazu überredet, auch kam es zu Zwang. Rechtsnormen seien dadurch aber keine verletzt worden.

Medikamententests in Münsterlingen sollen an mindestens 3000 Menschen erfolgt sein. - sda

Das Wichtigste in Kürze

  • Damals habe es weder ein Gesetz noch klinikinterne Richtlinien für die Handhabung von Arzneimittelversuchen gegeben, teilte die Luzerner Regierung am Donnerstag mit.

Sie hatte nach Bekanntwerden der Tests eine Untersuchung der Vorkommnisse in Auftrag gegeben, deren Resultate nun vorliegen.

Die Klinik St. Urban habe bei ihrem Vorgehen dem Standard der damaligen Zeit entsprochen, heisst es. Aus der Analyse von rund 2000 Dossiers aus dem relevanten Zeitraum werde aber ersichtlich, dass Patienten teilweise überredet worden seien. Vereinzelt habe man sie gezwungen, ein Medikament einzunehmen oder eine Behandlung zu akzeptieren.

Den Dossiers sei nicht zu entnehmen, dass die Patienten durchgehend aufgeklärt und die Zustimmung zum Einsatz von Versuchspräparaten eingeholt wurden. Allerdings unterscheide sich die Praxis der Handhabung von Versuchspräparaten nicht grundsätzlich von der Praxis der Handhabung von zugelassenen Arzneimitteln.

So steht etwa in einer Akte aus dem Jahre 1951 über einen Patienten: «Als er mal sonntags die Einnahme verweigerte, erhielt er wegen Verdacht auf Wahnspannung einen einzelnen Elektroschock.» In einer andere Notiz ist festgehalten, man habe versucht, einer Frau ein Medikament in den Kaffee zu geben, «doch die sehr misstrauische Patientin bemerkte dies und wacht seither eifersüchtig über ihre Verpflegung».

Noch 1975 hielten die Behandelnden in einem anderen Fall fest, dass eine Patientin uneinsichtig sei, keine Medikamente nehmen wolle und sich gegen eine Injektion derart vehement wehre, «dass die ganze Prozedur zu einer recht unschönen Szene ausartet».

Bei Verweigerungen wurden laut der Untersuchung auch weitergehende Massnahmen angedroht, etwa die Meldung an die Behörden. Leisteten Patienten Widerstand gegen Massnahmen, habe sich das Personal aber auch auf ausführliche Diskussionen eingelassen und die Patienten zu überzeugen versucht.

In einigen Fällen sei die Zustimmung von Familienangehörigen eingeholt worden. Es gebe aber auch Anzeichen, dass das Personal mit den Betroffenen über die gefassten Massnahmen gesprochen und Wert auf Akzeptanz gelegt habe.

Nebenwirkungen von Arzneimitteln wurden nur bei wenigen Patienten vermerkt. Hinweise auf Todesfälle als Folge der Medikamententests fanden die Studienautoren keine. Auch seien keine Akten vorhanden, die mögliche Beitragszahlungen von Pharma-Firmen belegen würden.

Die Entwicklung von Medikamenten in der Psychiatrie nahm in den 50er Jahren ihren Anfang. Die Arzneimittelversuche hätten dem Zweck gedient, bessere Heilmethoden zu entwickeln. Gesundheitsdirektor Guido Graf bedauert laut der Mitteilung die vereinzelten Situationen, die aus heutiger Sicht nicht tolerierbar seien. Es gelte aber, die Resultate der Untersuchung im Lichte der damaligen Zeit zu betrachten.

Der Kanton Luzern ist mit dieser Vergangenheit nicht alleine. Die Psychiatrische Klinik in Basel hatte zwischen den 1950er- und den -70er-Jahren regelmässig nicht zugelassene Wirkstoffe an Patienten getestet.

Über Medikamentenversuche in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen TG ab den 1950er Jahren wurde 2015 eine Studie in Auftrag gegeben. Ein interdisziplinäres Forschungsteam untersuchte dieses dunkle Kapitel der Psychiatrie im Thurgau, von dem über 1600 Patienten betroffen waren.