Coronavirus: Darf der Lockdown-Exit Menschenleben kosten?
Coronavirus - Wirtschaft und Gesellschaft fordern die Lockerung. Doch dies könnte die besonders gefährdeten Menschen treffen. Was ist ethisch vertretbar?
Das Wichtigste in Kürze
- Die täglichen Neuansteckungen sind in der Schweiz deutlich zurückgegangen.
- Die wirtschaftlichen Folgen hingegen werden immer deutlicher.
- Eine zweite Corona-Welle könnte ein grosses Dilemma heraufbeschwören.
Die Coronavirus-Massnahmen in der Schweiz zeigen ihre Wirkung. Die Zahl der täglichen Neuansteckungen geht seit Ende März zurück. «Flatten the curve» scheint aufzugehen. Das schlimmste scheint überstanden.
Anders in der Wirtschaft, hier sind die Folgen des Virus immer deutlicher zu spüren. So zeigen die neusten Zahlen des Seco, dass bereits 180'000 Unternehmen Kurzarbeit angemeldet haben. 36 Prozent aller Erwerbstätigen sind betroffen. Zudem erklärte Wirtschaftsminister Guy Parmelin kürzlich, dass einzelne Unternehmen die Krise wegen dem Coronavirus nicht überleben werden.
Damit steigt täglich der Druck aus Gesellschaft und Wirtschaft, dass der Bundesrat die Massnahmen lockert.
Der Bundesrat hat zwar mit einer Exit-Strategie aus der Krise reagiert. Schrittweise soll ein Weg aus dem Lockdown gefunden werden. Setzt aber voraus, dass die Fallzahlen weiterhin sinken. Der Schutz der Bevölkerung vor Infektionen mit dem Coronavirus bleibt das oberste Ziel, heisst es beim Bund.
Erst wenn sicher ist, dass die Lockerungsschritte keine negativen Folgen haben, will er einen weiteren Schritt ins Auge fassen. Also dann, wenn es zu keinem Anstieg der Neuinfektionen kommt.
«Jetzt öffnen - es geht!»
Doch das geht manchen zu wenig weit. FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen etwa fordert die sofortige Öffnung. «Die Leute wollen wieder normal arbeiten», schreibt er in einem Tweet.
Auch in den USA wächst der Unmut über den Lockdown. Das Land ist mit über 50'000 Toten am schlimmsten vom Coronavirus betroffenen. Doch hunderte Menschen gingen in Michigan, Colorado und weiteren Bundesstaaten auf die Strasse, um gegen den Stillstand zu protestieren. Sie wollen die Öffnung - jetzt!
Denn in den Vereinigten Staaten hat die Coronavirus-Pandemie nicht nur viele Menschenleben gekostet. Sie hat auch rund 26 Millionen Menschen arbeitslos gemacht. Firmen, Familien, Existenzen sind bedroht. Die Menschen wollen zurück an die Arbeit.
Gefahr vor Coronavirus nicht gebannt
Klar ist aber, die Gefahr vom Coronavirus ist längst nicht gebannt. Und mit einer Lockerung der Lockdown-Massnahmen besteht die Möglichkeit einer zweiten Welle. Also, dass sich das Virus wieder schneller verbreiten kann, sich mehr infizieren und damit auch die Zahl der Todesopfer steigt. Das wiederum ist ein bedrohliches Szenario insbesondere für Risikogruppen, also für Menschen ab 65 Jahren und Menschen mit Vorerkrankungen.
Für die politischen Entscheidungsträger in dies eine Zwickmühle: Soll die Wirtschaft wieder geöffnet werden, damit eine Mehrheit wieder arbeiten kann? Oder sollen wir weiterhin zuhause bleiben, damit wir die Leben der Schwachen schützen?
«Wie wir darauf antworten, wird eine echte Prüfung unserer Menschlichkeit und unserem Sinn für Gerechtigkeit», erklärt Anita Allen gegenüber «CNN». Allen war Mitglied des Bioethikkomitees unter Präsident Barack Obama. Sie spricht damit eine Diskussion an, die in der Folge der «open it up»-Bewegung in den USA entbrannt ist.
Einzelne konservative Politiker schlagen sich derzeit auf die Seite der Protestler und fordern ebenfalls die Öffnung. So erklärte der republikanische Abgeordnete Trey Hollingsworth: Man werde die «beste Entscheidung für die meisten Amerikaner» treffen müssen.
Diese laute, «die Amerikaner wieder an die Arbeit zu bringen». Davor hatte schon der texanische Vizegouverneur Dan Patrick ähnliches angedeutet. Ältere Amerikaner könnten bereit sein, ihr Leben für das Wohl des Landes zu opfern, so der Republikaner.
Und auch US-Präsident Donald Trump meinte: «Wir können nicht zulassen, dass die Heilung (Lockdown) schlimmer ist als die Krankheit».
Utilitarismus als Lösung der vom Coronavirus ausgelösten Krise?
Utilitarismus nennt sich diese Formel der zweckorientierten Ethik. Einfach ausgedrückt lautet die Idee: Die moralisch richtige Wahl ist diejenige, die das grösste Gut für die grösste Zahl hervorbringt.
Doch utilitaristische Haltungen ignorierten wichtige moralische Verpflichtungen, so Allen. Sie können zwar bei einer Kosten-Nutzen-Analyse hilfreich sein. Bei einer Pandemie aber könne diese Moralphilosophie zu unmoralischen Handlungen führen.
Sie impliziere, dass man auch hier eine Kosten-Nutzen-Analyse machen können. Also darüber, wie viele Menschen man zu opfern bereit ist, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Doch damit akzeptiere man auch besonders einschneidende Konsequenzen für die besonders gefährdeten Personen.
Das Probleme dieses Utilitarismus sei aber die Leichtfertigkeit, mit der er das Leben als blosses Mittel für soziale Ziele betrachtet. So erklärt Julian Savulescu, Philosoph und Direktor des Zentrums für praktische Ethik der Universität Oxford.
Er erklärt dies mit einem Gedankenexperiment: Sollte ein gesunder Mensch getötet werden, um das Leben von fünf anderen zu retten, die dringend Organtransplantationen benötigen? Der Utilitarismus sage ja. «Doch das widerspricht unserem gesunden Menschenverstand», so Savulescu.
Doch die Pandemie zwinge Ärzte, Krankenschwestern und Politikexperten derzeit, sich genau solchen Gedankenexperimenten im wirklichen Leben zu stellen.