Experten sehen hohes Verletzungsrisiko beim E-Scooterfahren
Lange wurde im Vorfeld über das Ob und Wie debattiert - nun rollen E-Scooter durch die Städte. Mediziner und Unfallforscher sehen das mit Sorge. Sie fragen: Sind wir gut genug vorbereitet?
Das Wichtigste in Kürze
- Schürfwunden, Knochenbrüche, Kopfverletzungen: Mediziner und Unfallexperten rechnen nach der Zulassung von Elektro-Tretrollern in vielen deutschen Städten mit einer Zunahme von Unfällen und teils erheblichen Verletzungen bei Fahrern und anderen Verkehrsteilnehmern.
Todesfälle sind aus anderen Ländern bereits bekannt. Aber wie gefährlich sind die kleinen Flitzer wirklich?
«Dass es massive Probleme geben wird zwischen E-Scooter-Fahrern und anderen Verkehrsteilnehmern, liegt auf der Hand. Die Frage ist nur: Wie schwerwiegend sind diese Probleme?», sagt Siegfried Brockmann von der Unfallforschung der Versicherer (UDV). Solange keine Erfahrungen vorlägen, sei es schwierig, diese Frage zu beantworten.
«Wir wissen aus internationalen Studien und Daten, dass das Verletzungspotenzial beim E-Scooter-Fahren sehr hoch ist», sagt Christopher Spering von der Klinik für Unfallchirurgie der Universitätsmedizin Göttingen. «Ich frage mich, ob wir gut genug darauf vorbereitet sind.»
Hinweise zum Verletzungsrisiko können etwa Studien aus den USA geben, wo Elektro-Tretroller schon länger zugelassen sind. Anfang des Jahres hatten Wissenschaftler etwa Daten aus Notfallambulanzen von zwei Kliniken in Südkalifornien ausgewertet: Demnach kamen in den beiden Kliniken innerhalb von einem Jahr 249 Patienten nach einem E-Scooter-Unfall in die Notaufnahme. Die meisten waren als Fahrer verunglückt. Die häufigsten Verletzungen waren Kopfverletzungen, gefolgt von Knochenbrüchen, Prellungen, Stauchungen und Platzwunden. 15 Patienten mussten stationär behandelt werden, zwei kamen mit schweren Kopfverletzungen auf die Intensivstation. «Diese Verletzungen werden wir auch haben», glaubt Brockmann.
Was E-Scooter im Vergleich etwa zum Fahrrad besonders mache, sei unter anderem die Position des Fahrers, erläutert Spering. Er stehe aufrecht auf einem kurzen Brett und habe nur einen kleinen Lenker zum Festhalten. Diese relativ wacklige Position des Fahrers sieht Spering als Hauptrisiko für einen Unfall. Hinzu kommt: Der Fahrer könne Richtungswechsel nicht anzeigen, da einhändiges Fahren nicht möglich sei. Das erschwere es anderen Verkehrsteilnehmern, das Fahrverhalten einzuschätzen. Auch Bremsvorgänge und Beschleunigungen seien nicht ersichtlich - und dies alles in einem ohnehin bereits aus- oder überlasteten Verkehrsnetz, sprich: auf vollen Strassen und Wegen.
Spering berichtet von zwei Fällen aus seiner Klinik, bei denen E-Scooter-Fahrer wegen eines Verrenkungsbruches im Bereich des Sprunggelenks behandelt wurden. Beide seien bei Stürzen mit dem Fuss unter das Trittbrett geraten. Der Mediziner rechnet nach Unfällen zudem mit Schädel-Hirn-Traumata, «weil der Kopf einfach so exponiert ist». Zudem dürfte es zu Brüchen und anderen Verletzungen an Händen und Armen kommen.
Tretrollerfahrer könnten bei Kollisionen nicht auf dem Brett stehen bleiben, sagt auch Brockmann. Bei einem Zusammenprall mit einem anderen Verkehrsteilnehmer würden sie vom Trittbrett katapultiert. Zum Verletzungsrisiko bei der Kollision käme dann dasjenige hinzu, dass durch den Aufprall auf dem Boden entsteht. Bei einer Kollision mit einem Fussgänger könne vor allem der Zusammenstoss der beiden Körper schwere Verletzungen zur Folge haben.
Entscheidend für die Sicherheit der Tretroller sei die Stabilität der Gefährte, die wiederum massgeblich von der Grösse der Räder abhänge: je grösser, desto stabiler das Gefährt. Grössere Räder sorgen auch dafür, dass E-Scooter besser über Unebenheiten wie Kopfsteinpflaster rollen, ohne sich zu verkanten. Allerdings machen grössere Räder die Roller weniger transportabel und schmälern damit einen der angepriesenen Vorteile: dass man sie problemlos in Bus und Bahn mitnehmen kann.
Brockmann rechnet vor allem in den ersten Monaten mit vielen Unfällen - auch nach eigenen Testfahrten mit einem E-Scooter. «Man glaubt ziemlich schnell, dass man sicher unterwegs ist.» Allerdings fehlten Erfahrungen im Verkehr - etwa wie der Roller reagiere, wenn plötzlich Fussgänger auftauchten und man schnell ausweichen müsse. Zudem wolle man rasch die Geschwindigkeit austesten. Die Mitte Mai beschlossenen Zulassungsregeln sehen vor, dass E-Scooter maximal 20 Kilometer pro Stunde auf Radwegen fahren dürfen, eine Nutzung auf Fusswegen ist verboten.
Manche Ärzte befürchten sogar ein erhöhtes Risiko für Querschnittlähmungen. Schon der Boom der E-Bikes habe zu einer Zunahme solcher Verletzungen geführt, mit der Zulassung der E-Scooter sei ebenfalls mit mehr Arbeit zu rechnen, hatte der Erste Vorsitzende der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie (DGMP), Yorck-Bernhard Kalke, Mitte Mai betont.
Wie begründet die Sorge der Mediziner grundsätzlich ist, zeigt der kürzliche Tod zweier E-Scooter-Fahrer in Schweden und Frankreich. In Deutschland zog sich am (heutigen) Sonntag ein 65-Jähriger in Bad Lippspringe bei Paderborn lebensgefährliche Verletzungen zu. Der Mann, der einen Schutzhelm trug, stürzte laut Polizei aus ungeklärter Ursache und wurde in ein Krankenhaus gebracht.
Die nächsten Monate werden zeigen, ob die bisherigen gesetzlichen Regelungen angepasst werden müssen oder nicht. Denkbar ist etwa, das derzeitige Mindestalter von 14 Jahren heraufzusetzen oder einen Führerschein zur Bedingung für das Fahren zu machen.
Ein gewisses Mass an Problemen und Unfällen müsse man allerdings tolerieren, meint Unfallforscher Brockmann: «Wir verbieten ja auch nicht das Fahrradfahren, nur weil es Fahrradunfälle gibt.»