Jeder Fünfte findet: Zu viel Raum für Holocaust-Gedenken
75 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz wird in vielen Veranstaltungen an die deutschen Gräueltaten und die Millionen Ermordeten erinnert. Eine Umfrage zeigt nun, wie die Deutschen den Umgang mit dem Thema beurteilen. Das löst Besorgnis aus.
Das Wichtigste in Kürze
- Mehr als jeder Fünfte in Deutschland findet, der Holocaust spiele in der deutschen Erinnerungskultur eine zu grosse Rolle.
In einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov für die Deutsche Presse-Agentur stimmten 22 Prozent der Aussage zu, das Holocaust-Gedenken nehme im Vergleich zu anderen Themen zu viel Raum ein. Auf der anderen Seite sind allerdings auch 24 Prozent der Meinung, das Gedenken sollte noch ausgebaut werden. 45 Prozent vertreten die Ansicht, so, wie es gehandhabt wird, ist es genau richtig.
Die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Eva Högl, zeigte sich beunruhigt über die Zahlen. Deutschland trage eine «historische Verantwortung», an die «grausamen Taten der Deutschen» während des Holocaust zu erinnern, erklärte sie. Dass dies offenbar jeder fünfte Deutsche nicht so sehe, sei Grund zur Besorgnis. FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae mahnte: «Die Erinnerung an den Holocaust ist wichtig, die Ermordung von Millionen Juden darf nicht in Vergessenheit geraten.» Die Zahlen der bundesweiten Meldestelle zeigten, dass Antisemitismus immer noch ein grosses Problem sei.
Bei den AfD-Wählern ist der Anteil derjenigen, die ein Zuviel an Gedenken und Erinnerung sehen, besonders gross. Mehr als jeder Zweite (56 Prozent) ist dieser Meinung. Die meisten Anhänger der anderen im Bundestag vertretenen Parteien stimmen der Aussage zu, dass Gedenken beziehungsweise das Erinnern an den Holocaust sei in Deutschland genau richtig.
Der damalige AfD-Chef Alexander Gauland hatte im Juni 2018 mit einer Äusserung zur Nazi-Zeit für Empörung gesorgt: «Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte», sagte er. Später bezeichnete Gauland seine Äusserung als «missdeutbar und damit politisch unklug». AfD-Fraktionsvize Beatrix von Storch betonte nun: «Das Unrecht und das Leid, das sich millionenfach hinter dem Synonym Auschwitz verbirgt, darf niemals in Vergessenheit geraten.»
Auch der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, warnte davor, einen Schlussstrich unter die Geschichte ziehen zu wollen. «Auschwitz ist die Verpflichtung jeder Bundesregierung, aber auch der Zivilgesellschaft, an die nationalsozialistischen Verbrechen zu erinnern», sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND, Samstag). «Diese Verpflichtung hört nie auf. Daran müssen wir arbeiten, auch abseits von Gedenktagen, im Alltag.»
Der Präsident des Zentralrates der Juden, Josef Schuster, hatte vor wenigen Tagen gewarnt, immer mehr Menschen wollten einen Schlussstrich ziehen, um in ihrer Komfortzone zu bleiben. Um die Erinnerung wach zu halten, seien Bildung und Erziehung unverzichtbar. Nur so könne die «monströse Aufgabe» gelingen, jungen Menschen das Geschehene - den nationalsozialistischen Völkermord an Millionen Menschen - zu vermitteln.
Nach Einschätzung des früheren israelischen Botschafters in Deutschland, Avi Primor, gibt es in Deutschland heute nicht mehr Antisemitismus als früher. «Der Antisemitismus in Deutschland und Europa hat in den letzten Jahren nicht zugenommen», sagte er im Inforadio des rbb. Die Judenfeindlichkeit werde zwar oft von Zuwanderern aus dem Nahen Osten geschürt, sagte Primor. Die meisten Deutschen seien aber keine Antisemiten.
Gleichwohl gebe es einen konstanten Bodensatz von Antisemiten. «Diese Menschen, die früher geschwiegen haben, trauen sich jetzt wieder, ihre Ansichten zu verbreiten, weil Israel wegen der Besetzung der palästinensischen Gebiete an Ansehen eingebüsst hat», so Primor.
75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee gibt es immer weniger direkt Betroffene, die über die Geschehnisse berichten können. 67 Prozent der Deutschen glauben der YouGov-Umfrage zufolge, dass die Erinnerung an den Holocaust und die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges stärker in Vergessenheit geraten werden, wenn die Generation der Zeitzeugen nicht mehr leben wird. 24 Prozent sind nicht dieser Ansicht.
Ihr Wissen über den Holocaust - also den Völkermord an Millionen europäischen Juden - haben die meisten Menschen aus Filmen, Büchern und anderen Medien (43 Prozent). 37 Prozent nennen die Schule als Hauptwissensquelle, 9 Prozent die Familie und den Bekanntenkreis. Mehr als jeder zweite Befragte (55 Prozent) hat nach eigenen Angaben schon mit älteren Familienmitgliedern über deren Erinnerungen an die Zeit während des Zweiten Weltkrieges gesprochen.
Am Montag, dem 27. Januar, jährt sich zum 75. Mal die Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz im von Hitler-Deutschland besetzten Polen durch die Rote Armee. Allein dort brachten die Nationalsozialisten mehr als eine Million Menschen um. Der Holocaust kostete insgesamt rund sechs Millionen Juden das Leben. Sie wurden von den Deutschen erschossen und in Gaskammern ermordet oder starben an den Folgen von Hunger, Krankheit und Erschöpfung.