Kanzler Scholz reist zu Antrittsbesuch bei Johnson nach London
Kanzler Olaf Scholz reist vor dem Hintergrund der Debatten über Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine an diesem Freitagmittag nach London. Bei seinem Antrittsbesuch beim britischen Premier Boris Johnson dürften der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und dessen Folgen im Mittelpunkt stehen. Beide Länder arbeiten in der G7-Gruppe der führenden westlichen Industriestaaten und in der Nato zusammen an Sanktionen gegen Russland und dessen Präsidenten Wladimir Putin. Auch über die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine wird diskutiert.
Das Wichtigste in Kürze
- Dass neben dem russischen Krieg in der Ukraine viel Zeit für eine Diskussion über die Folgen des Brexits bleibt, ist unwahrscheinlich.
Grossbritannien war Anfang 2021 endgültig aus der Europäischen Union (EU) ausgetreten. Noch immer schwelt ein Streit über die Umsetzung des Nordirland-Protokolls, mit dem der fragile Frieden in der ehemaligen Bürgerkriegsprovinz erhalten werden soll. London will das Protokoll neu aushandeln. Brüssel pocht auf die Einhaltung des Vertrags. Doch das dürfte allenfalls am Rande eine Rolle spielen.
Scholz und Johnson - Zwei unterschiedliche Politiker-Typen
Spannend dürfte der gemeinsame Auftritt Johnsons mit Scholz (SPD) am Nachmittag werden. Beide unterscheiden sich stark in Naturell und Politikstil. Zwar ist für Johnson die «Partygate»-Affäre um Feiern im Corona-Lockdown wegen des Krieges in der Ukraine in den Hintergrund gerückt. Die Polizeiermittlungen sind aber noch nicht abgeschlossen. Johnson lässt selten eine Gelegenheit für eine kleine Show aus. Scholz ist dagegen wie seine Vorgängerin Angela Merkel für nüchterne Auftritte bekannt. Scholz spricht häufig leise, langsam und wohlüberlegt. Angesichts der epochalen Herausforderung, der sich die beiden gegenübersehen, dürfte viel dafür sprechen, dass sie ein harmonisches Bild abgeben wollen.
Wie Scholz und Johnson zur Lieferung von Waffen stehen
Scholz gibt sich öffentlich sehr zurückhaltend, wenn es um Details deutscher Waffenlieferungen geht - trotz des anhaltenden Drucks aus der Ukraine, auch schwere Waffen wie Kampfpanzer zu liefern. Am Mittwoch sagte er im Bundestag: «Was wir aus den aktuellen Beständen der Bundeswehr an Waffen liefern können, alles das, was sinnvoll ist und schnell wirkt, das wird geliefert.»
Die Ampel-Regierung hatte kurz nach dem russischen Angriff ein Tabu gebrochen und beschlossen, Waffen in das Kriegsgebiet zu liefern. Bisher hat sie unter anderem Luftabwehrraketen, Panzerfäuste, Maschinengewehre und mehrere Millionen Schuss Munition exportiert. Nach den Gräueltaten an Zivilisten in der ukrainischen Stadt Butscha sollen die Lieferungen ausgeweitet werden. Im Gespräch sind etwa gebrauchte Schützenpanzer vom Typ Marder. Die Ukraine hätte gerne auch Panzer vom Typ Gepard, die mit Flugabwehrkanonen ausgestattet sind, und Kampfpanzer vom Typ Leopard.
London rühmt sich, an erster Stelle gewesen zu sein bei der Unterstützung Kiews mit Waffen und bildete schon seit Jahren Tausende ukrainische Soldaten aus. London hat die Ukraine seit Kriegsbeginn mit grossen Mengen an Waffen unterstützt - etwa Panzerabwehrwaffen und Flugabwehrraketen. Weitere sollen folgen. Spekulationen gab es zuletzt über eine mögliche Lieferung von Waffensystemen, mit denen Schiffe von der Küste aus bekämpft werden können. Daneben hat Kiew aus Grossbritannien massive finanzielle Unterstützung erhalten.
Wie stehen Scholz und Johnson zum Stopp von Energieimporten?
In der EU wird nach dem Vorschlag für ein Embargo von Kohle-Importen auch über einen Lieferstopp für Öl und Gas aus Russland diskutiert. Während aus der Bundesregierung Zustimmung zu einem Kohle-Importstopp signalisiert wird, lehnt sie einen Stopp der Gasimporte ab, auch ein Ende der Ölimporte wäre schwierig. Die Regierung befürchtet gravierende Auswirkungen auf die Industrie und in der Folge steigende Arbeitslosigkeit und soziale Verwerfungen. Scholz sagte am Mittwoch: «Diese Abhängigkeiten sind über Jahrzehnte gewachsen, und sie lassen sich nicht von einem Tag auf den anderen beenden.»
Laut Bundeswirtschaftsministerium ist der Anteil russischer Gaslieferungen von über 50 Prozent 2021 auf inzwischen gut 40 Prozent gesunken - erst bis zum Sommer 2024 könne es gelingen, weitgehend unabhängig von Russland zu werden.
Johnson hat sich bisher als treibende Kraft in Europa hinter weiteren Sanktionsforderungen etabliert. Er äussert aber auch Verständnis und sogar Bewunderung für die deutsche Reaktion. Der Import von Kohle und Öl aus Russland soll in Grossbritannien schon Ende 2022 auslaufen. Ein Stopp der Gasimporte soll folgen. Für die Briten ist das kein Problem - sie beziehen nur etwa 3 Prozent ihres Bedarfes von dort.
Brexit-Folgen für die deutsch-britischen Wirtschaftsbeziehungen
Seit dem 1. Januar 2021 ist Grossbritannien nicht mehr Mitglied der EU-Zollunion und des Binnenmarkts. Ein in letzter Minute vereinbarter Vertrag sorgt zwar weiterhin für weitgehend zollfreien Handel. Dennoch gibt es Handelshemmnisse, der Bürokratieaufwand ist gross.
Das Volumen des deutsch-britischen Aussenhandels sank 2021 erstmals auf unter 100 Milliarden Euro, deutsche Exporte nach Grossbritannien fielen seit 2015 um 27 Prozent. Deutsche Wirtschaftsvertreter forderten daher kürzlich eine Nachverhandlung des Handelsabkommens. Das ist aus britischer Sicht kaum zu erwarten. Doch auch in London gibt es Experten zufolge hinter den Kulissen über alle Parteien hinweg die Einsicht, dass eine engere Zusammenarbeit mit den nächsten Nachbarn vernünftig wäre.