Mission Europa: Von der Leyen im Brüsseler Kreuzverhör
Von der Leyen muss Farbe bekennen. Vor der liberalen Fraktion im Europäischen Parlament steht die deutsche Verteidigungsministerin als Kandidatin für das EU-Spitzenamt Rede und Antwort. Ein Livestream macht es zum ersten grossen Statement in der neuen Rolle.
Das Wichtigste in Kürze
- Am Anfang wird Ursula von der Leyen persönlich.
Sie sei in Brüssel geboren, habe im benachbarten Tervuren gelebt und zusammen mit Franzosen, Italienern und Niederländern die Europaschule besucht.
«Das war mein erster Eindruck von Europa», sagt die 60-Jährige am Mittwoch vor Europaabgeordneten in Brüssel. Den Geist Europas habe sie gelebt und geatmet.
Jahrzehnte später will von der Leyen zurück auf die Brüsseler Bühne. Seit einer Woche ist sie nominiert für das vielleicht mächtigste Amt der EU: Präsidentin der Europäischen Kommission. Und weil nicht nur die Kandidatin selbst, sondern auch das Europäische Parlament von der Personalie überrumpelt wurde, durchläuft sie nun eine hektische Werbetour von einer Fraktion zur nächsten in der Hoffnung auf Unterstützung bei ihrer Wahl nächste Woche.
Erstmals muss sie öffentlich Farbe bekennen - in einer von den Liberalen im Internet übertragenen Anhörung. Nach einigen Minuten nervöser Anspannung findet die deutsche Verteidigungsministerin dabei den vertraut entschlossenen Ton. In einigen Punkten legt sie sich fest, doch hält sie sich viele Optionen offen. Nur niemanden verprellen wenige Tage vor der entscheidenden Abstimmung im Parlament, wo eine Mehrheit immer noch nicht sicher ist.
Nur acht Tage hat die Überraschungskandidatin seit ihrer Nominierung Zeit gehabt, sich in die Untiefen der EU-Politik einzuarbeiten. Ist ein klimaneutrales Europa schon 2050 machbar? Ist eine CO2-Steuer sinnvoll oder die Ausweitung des Europäischen Emissionshandels? Kann der Brexit vielleicht doch noch nachverhandelt werden? Geht das eventuell schneller mit dem Ausbau der Grenz- und Küstenwache Frontex? Muss der Binnenmarkt vertieft werden? Braucht es eine europäische Armee? Einen neuen Rechtsstaatsmechanismus?
Von der Leyen schlägt sich passabel bei all diesen Fachfragen und sendet einige wichtige Signale: Auf das Ziel einer klimaneutralen EU legt sie sich fest - so wie die Mehrheit im Parlament. Auf eine strikte Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit - die den Liberalen besonders wichtig ist. Auf eine mögliche Erweiterung der Euro- und der Schengenzone - auf die einige neuere Mitgliedstaaten hoffen.
Nahtlos wechselt die CDU-Politikerin zwischen Deutsch, Französisch und Englisch, lächelt entschlossen. Und sagt auch immer ein bisschen von dem, was ihre Gesprächspartner mit Sicherheit hören wollen. So nennt sie das liberale Anliegen einer «Demokratie-Konferenz» eine «brillante Idee», die sie vollen Herzens unterstützen könne. Bürgerdialoge, die in konkrete Gesetze und Reformen für mehr Demokratie münden sollen: «Ich werde mir das sehr gerne vornehmen», sagt von der Leyen.
Dann macht sie sich für einen neuen Spitzenkandidatenprozess stark, wohl wissend, dass das vielen Abgeordneten in allen grossen Fraktionen ein wichtiges Anliegen ist. Denn diesmal haben die EU-Staats- und Regierungschefs eben nicht, wie vom Parlament gewünscht, einen der Europawahl-Spitzenkandidaten als Kommissionschef ausgewählt, sondern von der Leyen als Kandidatin aus dem Hut gezaubert. Auch deshalb ist ihre Position jetzt so wackelig, der Rückhalt bei den grossen Fraktionen so fraglich.
«Ich weiss, dass wir natürlich einen holprigen Start hatten», sagt die Kandidatin. «Dessen bin ich mir absolut bewusst. Ich kann die Vergangenheit nicht heilen, es ist eine Tatsache.» Will heissen: Tragt mir das nicht nach, ich kann nichts dafür.
Allerdings gibt gerade von der Leyens Situation als Kaltstarterin den Verfechtern des Spitzenkandidatenprinzips recht. Die beiden Hauptbewerber, Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei und Frans Timmermans von den Sozialdemokraten, mussten sich schon im Wahlkampf zu allen erdenklichen Fragen erklären, auch im deutschen Fernsehen, so dass man am Ende sagen konnte: Die Wähler kennen die Bewerber und wissen, was sie kriegen. Von Ursula von der Leyen wusste das bisher niemand.
Die Fragerunde ist nicht aggressiv, eher sachlich und zugewandt, aber es wird schnell konkret. Beispiel Migrationspolitik. Dort tut sich in der EU der aktuell vielleicht grösste Graben auf zwischen Ost und West, Nord und Süd. «Wir haben dazu bisher wenig von Ihnen gehört, obwohl es ein äusserst bedeutender Punkt für die Bürger ist», sagte eine liberale Abgeordnete.
«Ja, wir werden eine klare gemeinsame Definition brauchen», sagt darauf die CDU-Politikerin. «Was ist Asyl, wer hat Anspruch auf Asyl und wer nicht. Was ist illegale Migration und was ist legale Migration.» Um die inneren Grenzen offen zu halten, müsse es eine starke Aussengrenze geben. Das Ziel von zehntausend Männern und Frauen in der Grenzschutzorganisation Frontext müsse viel früher als 2027 erreicht werden. Und es müsse Investitionen in den Herkunftsländern der Migranten geben.
Nach mehr als zweistündigem Frage- und Antwort-Spiel sind nun zumindest die Abgeordneten etwas schlauer. Allerdings kommt von den Fragestellern auch immer wieder: Das wüssten wir jetzt gerne schon ein bisschen genauer, was von der Leyen mit einigen elegant jonglierten Floskeln abbindet. Das sei «von grösster Bedeutung», ist so eine Redewendung, die sie immer wieder nutzt. Oder: «Da bin ich an Ihrer Seite». Oder: «Sie können auf mich zählen.»
Am Ende kann die Kandidatin einigen Zuspruch verbuchen und einiges persönliches Lob. Aber auf Zustimmung bei der Wahl will sich weder die liberale Fraktion festlegen noch die sozialdemokratische, die von der Leyen zuvor hinter verschlossenen Türen getroffen hat. Die Abgeordneten halten sich alles offen. Und von der Leyen kämpft weiter. Am Nachmittag twittert sie ein Bild von einer «kurzen Pause»: Die Kandidatin in zartblauem Blazer in einem riesigen weissen Sessel, angespannt, konzentriert, entschlossen.