Attentat auf Abgeordneten löst Demokratiedebatte aus
Die Ermittler gehen inzwischen von einem terroristischen Hintergrund für den tödlichen Angriff auf den Tory-Abgeordneten Amess aus. Es gibt Hinweise auf eine Verbindung zum Islamismus.
Das Wichtigste in Kürze
- Sicherheit oder Bürgernähe? Der tödliche Messerangriff auf den Tory-Abgeordneten David Amess hat in Grossbritannien eine Debatte über das Verhältnis von Demokratie und der Gefahr durch Attentäter ausgelöst.
Wie die Polizei in der Nacht zum Samstag mitteilte, gehen die Ermittler inzwischen von einem terroristischen Hintergrund aus. Der Fall sorgte im ganzen Land für grosse Betroffenheit.
Amess war am Freitag während einer Bürgersprechstunde in seinem Wahlkreis in der Grafschaft Essex von einem Angreifer erstochen worden. Ein 25 Jahre alter Mann wurde wegen Mordverdachts noch am Tatort festgenommen. Erste Untersuchungen hätten «eine mögliche Motivation in Verbindung zu islamistischem Extremismus» ergeben, heisst es in der Mitteilung der Polizei. Die Ermittler gehen von einem Einzeltäter aus. Wie die Nachrichtenagentur PA unter Berufung auf Sicherheitskreise berichtete, soll es sich bei dem Verdächtigen um einen Briten mit somalischer Herkunft handeln.
Unterhauspräsident Lindsay Hoyle mahnte eine Debatte über die Sicherheit von Politikern an. Es sei aber «essenziell», dass die Abgeordneten ihre Beziehung zu den Bürgern aufrechterhalten könnten, sagte Hoyle in der BBC am Freitagabend. Er selbst habe daher seine Sprechstunde selbst nach dem Attentat auf Amess noch abgehalten. «Wir müssen sicherstellen, dass die Demokratie das überlebt», so Hoyle weiter.
Keine Treffen mehr mit Abgeordneten?
Amess' Parteifreund Tobias Ellwood, der für seinen beherzten Erste-Hilfe-Einsatz nach einem terroristischen Angriff auf das Parlament im Jahr 2017 bekannt wurde, forderte am Samstag hingegen, physische Treffen von Angeordneten mit Bürgern vorübergehend einzustellen.
Innenministerin Priti Patel, die eine umgehende Sicherheitsüberprüfung angeordnet hatte, bezeichnete das Attentat als «Angriff auf die Demokratie». Sie sprach sich für ein neues Gleichgewicht zwischen dem demokratischen Prozess und der Sicherheit der Abgeordneten aus. «Wir können uns nicht von einem Einzelnen oder eine Beweggrund einschüchtern lassen, so dass wir aufhören zu funktionieren, unserer gewählten Demokratie zu dienen», so Patel im Nachrichtensender Sky News.
Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos), die im Jahr 2015 selbst Opfer eines Messerangriffs wurde, zeigte sich erschüttert. «Fürchterliche Nachrichten aus dem Vereinigten Königreich. Der feige Mord an David Amess geht mir persönlich nahe. In Europa müssen alle DemokratInnen zusammenstehen gegen Hass und Gewalt», schrieb Reker auf Twitter.
Premierminister Boris Johnson besuchte den Tatort in dem südostenglischen Küstenort Leigh-on-Sea am Samstag. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie der Premier und Konservativen-Parteichef einen Kranz an der Methodisten-Kirche niederlegte, die am Freitag zum Schauplatz des Messerangriffs auf Amess wurde. Begleitet wurde er vom Oppositionschef Keir Starmer von der Labour-Partei, Innenministerin Patel und Unterhauspräsident Hoyle. die ebenfalls Kränze niederlegten.
Erinnerung an Mord an Labour-Politikerin
Britische Abgeordnete, die alle direkt in ihrem Wahlkreis gewählt werden, bieten regelmässig Sprechstunden mit Bürgern an, die auch kurzfristig besucht werden können. Die sogenannten «surgeries» werden gewöhnlich einmal pro Woche abgehalten und gelten als wichtiger Bestandteil der demokratischen Kultur in Grossbritannien. Auch die Labour-Abgeordnete Jo Cox war 2016 bei einer Bürgersprechstunde von einem Rechtsextremisten ermordet worden. Das Attentat ereignete sich nur wenige Wochen vor dem Brexit-Referendum.
Amess hinterlässt eine Frau und fünf Kinder. Der gläubige Katholik aus einer Arbeiterfamilie galt als erzkonservativer Brexit-Befürworter, der sich gegen das Recht auf Abtreibung und für Tierrechte einsetzte. Er war auch ein entschiedener Gegner der Fuchsjagd. Amess sass seit 1983 für die Tories im britischen Parlament, zuerst für den Wahlkreis Basildon, später für Southend West. Er war ein glühender Anhänger der «Eisernen Lady» Margaret Thatcher. 2015 wurde er zum Ritter geschlagen.
In einem im vergangenen Jahr veröffentlichten Buch klagte Amess noch darüber, wie die seit dem Mord an Cox gestiegenen Sicherheitsvorkehrungen «die grossartige britische Tradition» der Treffen mit Bürgern erschwere. «Wir alle machen uns gerne verfügbar für die Bewohner unserer Wahlkreise und haben es oft mit Menschen mit psychischen Problemen zu tun. Es könnte jeden von uns treffen», so Amess damals.