Während in der Provinz Sachsen-Anhalts die Polizei noch im Grosseinsatz ist, kehrt in Halle langsam Ruhe ein - und Trauer. Am Marktplatz gedenken einige der Toten. In der Heimat des mutmasslichen Täters kann man nicht glauben, was dieser getan haben soll.
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In Halle herrscht Trauer. - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Das Fluchtauto aus Halle stehe auf seinem Grundstück, erzählt ein Mann sichtlich aufgewühlt am Mittwochabend.
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Die Polizei habe Sprengstoff darin gefunden.

Die Polizei bestätigt das nicht und überhaupt sagen die Beamten, die den Landsberger Ortsteil Wiedersdorf bereits seit dem Nachmittag abgeriegelt haben, nichts zu ihrem Einsatz. Zuvor hatte ein schwerbewaffneter Mann in dem 15 Kilometer von Wiedersdorf entfernten Halle vergeblich versucht, in eine Synagoge einzudringen und dort ein Blutbad anzurichten. Ausserhalb des Gotteshauses tötete er zwei Menschen. Auf seiner Flucht soll er nach Wiedersdorf gekommen sein.

Was Reporter in dem Ort erfahren, stammt oft aus einer WhatsApp-Gruppe, über die Einwohner untereinander Kontakt halten. Quer auf der Landstrasse stehende Polizeiwagen versperren die Durchfahrt. Immer wieder müssen Autos auf der Strassen wenden und umkehren. Auch in Landsberg habe es Schüsse gegeben, das ist die einzige Information der Behörden zu dem Örtchen nahe der sächsischen Grenze. Anwohner dürfen ihre Häuser nicht betreten, niemand darf sich dem Ort bis auf 300 Meter nähern, schwerbewaffnete Polizisten durchsuchen Häuser. Der Einsatz ist offenbar auch am frühen Donnerstagmorgen noch nicht beendet, als die grossräumigen Sperren im nahegelegenen Halle schon längst wieder aufgehoben sind. Allerdings hat ein Grossteil der Polizisten den Einsatzort verlassen.

In Halle herrscht dagegen Trauer: Am späten Abend stehen knapp 50 Menschen auf dem Marktplatz. Sie haben, wie einige Dutzend vor ihnen, Blumen mitgebracht und Kerzen, die sie in Gedenken an die Opfer und den Angriff auf die Synagoge rund eineinhalb Kilometer nördlich von hier niedergelegt haben. «Das ist unsere Stadt und wir wollen zeigen, dass wir das nicht tolerieren», sagt Andrea. «Gerade überwiegt die Trauer, Bestürzung und ein bisschen Wut», sagt die 55-Jährige.

Auch Lelóu gedenkt der zwei Menschen, die der Rechtsextreme Stephan B. einige Stunden zuvor getötet haben soll. Sie studiert, so wie es auch B. getan haben soll, in Halle. «Es ist um die Ecke passiert. Wir wissen nicht, wer die Opfer sind, aber es hätte auch einer von uns sein können», sagt die 20-Jährige. «Einer unserer Kommilitonen ist gestern noch beim Dönerladen was essen gewesen.» Ihre Grosseltern hätten ihr nach solch schrecklichen Taten gesagt, sie solle aufpassen, wenn sie auf die Strasse gehe, sagt Lelóus Kommilitonin Lena (20). Eigentlich wolle sie sich gerade davon nicht einschüchtern lassen. «Aber jetzt ist es halt genau hier passiert - schon sehr gruselig.»

Bewaffnet mit Langwaffen und wohl selbstgebauten Sprengsätzen soll der mutmassliche Rechtsextremist B. am Nachmittag seinen Angriff in Halle begonnen haben. Nur glückliche Fügungen und die Sicherheitsvorkehrungen der Jüdischen Gemeinde verhinderten wohl, dass er nicht deutlich mehr Menschen töten konnte. Im Internet taucht ein Video auf, auf dem B. während der Tat zu sehen sein soll, so wie schon andere Rechtsextreme ähnliche Taten filmten und veröffentlichten.

In fast 36 verstörenden Minuten dokumentiert und kommentiert in dem Video ein Mann seine Taten, spricht über seine rechtsextremen Motive, über das Versagen seiner Kampfmittel, über die Enttäuschung, nicht in die Synagoge gekommen zu sein. Auf die beiden Menschen, die er tatsächlich tötete, so lässt das Video vermuten, hatte er es ursprünglich gar nicht abgesehen. Der Mann im Video scheint schlecht vorbereitet auf seine Tat, offenbar improvisiert er, als er eine Frau auf der Strasse vor der Synagoge und später einen Mann in einem Imbiss tötet. Wenig später nimmt die Polizei B. fest.

Der mutmassliche Täter wuchs gar nicht weit weg vom Tatort auf. In Helbra, rund 30 Kilometer östlich von Halle, sind am Abend auf den Strassen keine Menschen mehr. Durch den 4000-Einwohner-Ort führt eine einzige Hauptstrasse, entlang an vielen kleinen, renovierungsbedürftigen Einfamilienhäusern. An der einzigen grossen Kreuzung holt sich ein Mann am späten Abend noch bei einem Döner-Imbiss etwas zu essen.

Wenige Meter weiter wohnt B.s Vater. Er will nicht mit Journalisten sprechen. Von den Nachbarn in der verkehrsberuhigten Strasse mit Kopfsteinpflaster will das nur einer. Und was er sagt, kommt einem bekannt vor, aus anderen Beschreibungen von Nachbarn von Amokläufern. Familie B. sei eine ruhige Familie, Stephan viel zu Hause gewesen. Ohne Haare sehe er ja komisch aus, aber ein Nazi? Stephan? Das kann sich der Nachbar nicht vorstellen.

Der Landstrich um die Städte Eisleben, Sangerhausen und Hettstedt war bis 1990 über Jahrhunderte hinweg durch den Kupferbergbau geprägt. Mit dem Strukturwandel in der ostdeutschen Industrie wurde der Erzabbau nach der Wende aus wirtschaftlichen Gründen stillgelegt. Zehntausende Menschen und Familien waren vom Jobverlust betroffen. Bis heute hat sich die Region davon nicht erholt, trotz Luther-Tourismus.

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