Ukraine: Prowestlicher Selenskyj gewinnt absolute Mehrheit
Wahlsensation in der Ukraine: Die proeuropäische Partei von Präsident Selenskyj kann allein regieren. Mit ihrer starken Mehrheit im Parlament kann Selenskyi nun wichtige Reformen angehen und den Krieg in der Ostukraine beenden. Die Erwartungen sind hoch.
Das Wichtigste in Kürze
- Nach einem in der Geschichte der unabhängigen Ukraine beispiellosen Wahlerfolg will der prowestliche Präsident Wolodymyr Selenskyj mit einer Parlamentsmehrheit das Land aus der Krise führen.
Der 41-Jährige gewann nicht nur über die Liste seiner in die EU und Nato strebenden Partei Diener des Volkes eine Mehrheit, sondern auch überraschend viele Direktmandate.
Selenskyj kann demnach mit mehr als 240 der 424 Abgeordneten ohne Koalitionspartner regieren, wie seine Partei mitteilte. Die offizielle Auszählung der Stimmen dauerte am Montag an.
Die Wahlkommission in Kiew sprach aber von einem ordnungsgemässen Verlauf der Abstimmung am Sonntag. Auch die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) lobten die Wahl in der Ex-Sowjetrepublik als demokratisch. Sie sei transparent und gut organisiert gewesen. Selenskyj hatte am Wahlsonntag noch von möglichen Koalitionsverhandlungen gesprochen. Nun kann er mit einer absoluten Mehrheit alleine regieren.
Das hat bislang noch keine Partei der Ex-Sowjetrepublik seit ihrer Unabhängigkeit geschafft. Nach Auswertung von mehr als 60 Prozent der Stimmzettel lag die Partei Selenskyjs mit dem Namen Diener des Volkes (Sluha Narodu) am Montagnachmittag bei knapp 42,68 Prozent. Beobachtern zufolge wurde bei der Abstimmung , die in den vergangenen 20 Jahren das politische Geschehen in dem Krisenland mitbestimmte.
Die Erwartungen an Selenskyj sind nun gross. Seine Partei versprach im Wahlkampf, den Krieg im Osten des verarmten Landes zu beenden und die Korruption zu bekämpfen. Dieses Ziel bekräftigte der frühere Schauspieler auch am Wahlabend. Vorrangige Aufgabe sei zudem, ukrainische Gefangene aus Russland zurückzuholen, sagte der Staatschef.
Mit der vorgezogenen Neuwahl erreichte Selenskyj sein Ziel, sich mit seiner neuen Partei eine eigene Machtbasis im Parlament zu schaffen. Bislang war Diener des Volkes nicht in der Obersten Rada vertreten, was eine Umsetzung der geplanten Reformen Selenskyjs behinderte. Er erzielte seinen Erfolg allerdings bei der niedrigsten Wahlbeteiligung in der jüngeren Geschichte der Ukraine. Nicht einmal die Hälfte der 30 Millionen Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab.
Ursprünglich sollte die Volksvertretung erst im Oktober neu gewählt werden. Selenskyj zog die Abstimmung jedoch vor, weil es in der Rada keine regierungsfähige Koalition mehr gegeben hatte.
Zweitstärkste Kraft wurde die prorussische Oppositionsplattform mit knapp 13 Prozent der Stimmen. Parteichef Juri Boiko sagte, dass die Wahl die krisengeschüttelte Ukraine wieder auf einen friedlichen und normalen Weg zurückbringe. An dritter Stelle landete die Partei Europäische Solidarität von Ex-Präsident Petro Poroschenko. Sie holte demnach rund acht Prozent.
Insgesamt schafften fünf der 22 Parteien den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde. Darunter waren auch die Vaterlandspartei von Ex-Regierungschefin Julia Timschenko sowie die Partei Stimme des Kuschelrocksängers Swjatoslaw Wakartschuk.
Aus Deutschland kamen hoffnungsvolle Reaktionen. Selenskyj verfüge nun über ein starkes Mandat für seine ambitionierte Reformagenda, sagte die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer in Berlin. «Wir erwarten, dass er diese Reformen jetzt entschlossen angeht, um die in ihn gesetzten Hoffnungen der Ukrainer zu erfüllen.»
Der Grünen-Bundestagsabgeordnete und Osteuropa-Experte Manuel Sarrazin meinte in Kiew: «Das Wahlergebnis in der Ukraine ist nichts anderes als eine kleine Revolution.» Er sah das «bisherige als korrupt und unglaubwürdig angesehene politische Personal» damit als abgestraft an. So scheiterte etwa die Partei des Regierungschefs Wladimir Groisman samt vier Ministern an der Fünf-Prozent-Hürde.
Aus Sicht des aussenpolitischen Sprechers der AfD-Bundestagsfraktion Armin-Paulus Hampel ist das Wahlergebnis ein weiterer Beleg für eine gesamteuropäische Gesteinsverschiebung im Abstimmverhalten der Bevölkerungen. «Die viel geschmähten, sogenannten «populistischen Parteien» seien auch dort in einer unübersehbaren Aufstiegszone», hiess es.
Der Osteuropabeauftragte der Links-Fraktion Alexander Neu, sagte: «Wie auch immer die Machtverhältnisse im neuen ukrainischen Parlament ausfallen werden, Berlin muss dafür sorgen, dass Kiew aus der transatlantischen und der EU-Umklammerung entlassen wird, damit Präsident Zelenskyi eine Chance zum Ausgleich mit Moskau bekommt.»
Erste Reaktionen aus dem Nachbarland Russland waren zunächst verhalten. Selenskyj müsse noch politische Reife zeigen, schrieb der Aussenpolitiker Konstantin Kossatschow auf Facebook. «Die politische Kindheit und Jugend ist für Präsident Selenskyj somit beendet. Jetzt kommt die Zeit der echten Verantwortung», sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im russischen Oberhaus.
Das Aussenministerium in Moskau appellierte an das neue Parlament, den Vertrauensvorschuss der Wähler mit Bedacht für friedliche Zwecke und zum Wohle des ganzen Landes einzusetzen. Der Aussenpolitiker Leonid Kalaschnikow wertete den Erfolg der prorussischen Oppositionsplattform als positives Zeichen, dass sie sich für eine Verbesserung der Beziehungen zu Moskau einsetzen werde.
Sie sind nach der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim vor gut fünf Jahren und wegen der Kämpfe zwischen prorussischen Separatisten und ukrainischen Regierungstruppen im Osten des Landes zerrüttet. Dort starben nach UN-Schätzungen seit 2014 rund 13 000 Menschen. In dem Kriegsgebiet gilt seit Sonntag eine neue Waffenruhe. Beide Seiten des Konflikts warfen sich am Montag gegenseitig eine Verletzung der Feuerpause vor.