Wie der Sandoz-Chemieunfall den Rhein zur Kloake machte
Zwei Angler stehen am Samstag, dem 1. November 1986, wie so oft in aller Herrgottsfrühe zum Fischen am Oberrhein. «Es war so sechs, sieben Uhr morgens, da war der Rhein noch intakt», berichtete Hans-Dieter Geugelin der ZDF-Sendung «Hallo Deutschland» im Oktober 2021. «Zwei Stunden später sahen wir die ersten toten Aale vorbeischwimmen.» Die Freunde dachten, die Aale seien in eine Schiffsturbine geraten. «Aber mit der Zeit wurden es immer mehr.» Dann sieht Manfred Trenkle, wie sich das Rheinwasser rötlich färbt.
Was die Angler noch nicht wissen: Sie erleben gerade den Anfang einer der grössten Umweltkatastrophen Europas mit gigantischem Fischesterben. Der Gewässerexperte der Umweltorganisation BUND, Sascha Maier, sagte gerade, die Dimension der derzeitigen Oder-Katastrophe sei vergleichbar mit den verheerenden Ereignissen im Rhein 1986. Aber damals war die Ursache schnell klar.
1. November 1986, kurz nach Mitternacht: Im Basler Industriegebiet Schweizerhalle geht um kurz nach Mitternacht der Feueralarm los. Die Lagerhalle 956 der Chemiefirma Sandoz brennt. Darin: mehr als 1000 Tonnen Unkrautvernichter und Insektizide. Die Feuerwehr löscht über Stunden. Um drei Uhr morgens werden die Anwohner durch Dauer-Sirenenalarm aus dem Bett gerissen: Eine stinkende Giftwolke zieht über Stadt und Land, sie sollen die Fenster schliessen und in den Häusern bleiben.
Erst mal alles kleingeredet
Was die beiden Angler schon Stunden nach der Katastrophe am Oberrhein sehen, wird von der Firma und den Behörden - auch in Deutschland - noch tagelang kleingeredet: «Es sind keine Pannen entstanden», sagt etwa der damalige Regierungspräsident des Kantons Baselland, Werner Spitteler. Der damalige baden-württembergische Umweltminister Gerhard Weiser (CDU) sagt Tage später noch: «Die Messergebnisse, die wir haben, deuten auch heute auf eine relativ geringe Belastung hin.» Hans Winkler, Vorstandsmitglied bei Sandoz, wiegelt auch öffentlich ab. Er spricht von einer «Belastung» des Rheins. Es sei ja nur eine ausserordentlich empfindliche Fischsorte, die Äsche, «zu Schaden gekommen». Erst auf Nachfrage nennt er auch den Aal.
Tatsächlich kommen auf rund 400 Kilometern bis zur Loreley praktisch sämtliche Aale um. Insgesamt verenden Hunderte Tonnen Fische und andere Wasserbewohner. Rund 20 Tonnen Chemikalien waren mit dem Löschwasser im Rhein gelandet, darunter 2,6 Tonnen Quecksilber. «Es dauerte Jahre, bis sich der Fluss wieder erholt hatte», hielt das Schweizer Bundesumweltamt später fest.
Die Empörung in der Bevölkerung ist gross, zumal sich das Rhein-Wasser in Ufernähe wegen eines nach Firmenangaben an sich harmlosen Markierungsfarbstoffs rot färbt und die Giftwalze so vor aller Augen Hunderte Kilometer Richtung Norden schwappt. In Basel kommt es zu Grossdemonstrationen, auf den Rheinbrücken gibt es Menschenketten.
Tote Aale auf dem Tisch
Eine öffentliche Anhörung mit Politikern und Sandoz-Managern in Basel versinkt im Chaos, als den Männern auf dem Podium aus dem Publikum tote Aale auf den Tisch geknallt werden. 20 Jahre später räumt Novartis - die Firma, in der Sandoz und der Basler Konkurrent Ciba-Geigy 1996 aufgegangen waren - ein: «Im Rhein wurde der Fischbestand fast völlig zerstört.» Auf dem Sandoz-Gelände gab es keine Auffangbecken für Löschwasser im Katastrophenfall, wie sie damals bei deutschen Chemiefirmen bereits üblich waren.
Eine Strafuntersuchung verlief zwar im Sande, aber es tat wegen des öffentlichen Drucks viel. Novartis berichtete 2006: «Der Grossbrand hatte deshalb auf den Umfang und auf die internationale Koordination der Rheinsanierung eine heilsame, beschleunigende Wirkung.» Die Auflagen für Chemiekonzerne wurden verschärft, Auffangbecken gebaut.
Der Rhein bekam ein automatisiertes Gewässerüberwachungsnetz. Die Internationale Kommission zum Schutz des Rheins (IKSR) in Koblenz wurde ausgebaut. Säuberungs-, Schutz- und Förderprogramme machten sogar den Lachs im Rhein wieder heimisch. «Der Rhein hat Zukunft», berichtete die IKSR 20 Jahre nach dem Unglück. Und weitere zehn Jahre später: «Hohe Investitionen in den Umwelt- und Gewässerschutz (...) haben aufgezeigt, dass es möglich ist, aus der Kloake Rhein wieder einen weitgehend sauberen Strom zu machen.»