Coronavirus: Epidemiologen bezweifeln Salathés Grippe-These
Das Wichtigste in Kürze
- Marcel Salathé zeigt sich hinsichtlich der Corona-Entwicklung äusserst optimistisch.
- Fachkollegen bleiben jedoch zurückhaltender als der Epidemiologe.
- Sie warnen, dass der Winter schwieriger werden könnte, als Salathé denkt.
Marcel Salathé sorgte gestern Sonntag mit seinen Positionen zum Coronavirus für Aufsehen: Der Epidemiologe von der ETH Lausanne sprühte im Interview mit der «SonntagsZeitung» vor Optimismus: Bald könnte das Coronavirus genauso harmlos wie eine Grippe sein.
«Nach einem holprigen Sommer sind wir auf einem guten Weg. Es sieht gerade wirklich, wirklich gut aus», so Salathé. Das klang vor wenigen Wochen noch ganz anders.
Ist derart viel Optimismus gerechtfertigt? Nau.ch hat bei seinen Fachkollegen nachgefragt.
Contact Tracing funktioniert besser
Anlass für Salathés Optimismus ist die Entwicklung bei der Krisenbewältigung. Dank Bemühungen der Kantone funktioniere das Contact Tracing mittlerweile viel besser. In diesem Punkt stimmen ihm andere Epidemiologen zu.
«Ich denke auch, dass die Kantone gut arbeiten und das Contact Tracing mit grossem personellem Einsatz betrieben wird», pflichtet der Tessiner Epidemiologe Andreas Cerny bei. «Dies ist zusammen mit den Schutzmassnahmen dafür verantwortlich, dass der Anstieg der Fallzahlen nicht steiler ist.»
Die von Salathé angekündigte Trendwende sieht Cerny allerdings noch nicht: «Es ist trotzdem ein Fakt, dass wir, wie auch die umliegenden Länder eine klare und konstante Zunahme der Fälle beobachten. Mehrere Kantone wie die Waadt, Genf, Freiburg, Zürich und Bern hatten in den letzten 14 Tagen über 300 neue Infektionen.» Das sei für die Kantonsarztämter nach wie vor enorm viel Arbeit.
Was passiert mit dem Coronavirus im Winter?
Auch zum bevorstehenden Winter sind Salathés Prognosen zum Coronavirus positiv. «Ja, die Ausblicke sind gut, wenn wir nun so weitermachen», bestätigt der Basler Epidemiologe Marcel Tanner. Das bedeute, dass weiterhin Infektionen stets erkannt und gezielt eingedämmt müssen: Die Schweizer müssen weiterhin verantwortungsbewusst und noch gemeinschaftlicher handeln.
Cerny ist hinsichtlich des Winters jedoch einer anderen Meinung: «In der kalten Jahreszeit sind wir näher zusammen und öfter in geschlossenen, geheizten und damit wenig belüfteten Räumen. Dies sind Bedingungen, welche die Verbreitung von respiratorischen Viren generell fördern.»
Optimistischer Ausblick gerechtfertigt?
Die Entwicklung der medikamentösen Behandlung und bei den Impfstoffen ist laut Salathé ebenfalls positiv. «Dies ist eher optimistisch als realistisch», findet Cerny. «Ich glaube nicht, dass wir die Schweizer Risikopopulation in den nächsten Wochen mit einem SARS CoV-2 Impfstoff, der dokumentiert sicher und wirksam ist, impfen und damit über die Wintermonate schützen können. Ein Medikament, welches früh gegeben, die Entwicklung einer COVID-19 Krankheit verhindert, scheint mir schon eher eine realistische Möglichkeit.»
Auch Tanner warnt davor, die optimistischen Aussagen Salathés fehlzuinterpretieren. «Herr Salathé gibt Ausblicke, dass wir ohne Angst nach vorne blicken können, und spricht sich nicht für Lockerungen aus. Wie schon immer zählt: ‹Nid lugg loh gwünnt.›»