Kontroverse in Schwangerschaft: Darf man sagen «Hauptsache gesund»?
Gesundheit ist das höchste Gut. Darum wünschen sich das werdende Eltern für ihre Kinder. Dennoch finden einige, die Aussage «Hautsache gesund» sei unangebracht.
Das Wichtigste in Kürze
- Statt «Hauptsache gesund» soll man für Kinder besser «Hauptsache geliebt» sagen.
- Denn der Fokus auf die Gesundheit diskriminere die kranken Kinder, finden einige.
- Ein Experte findet die Aussage nicht problematisch. Wichtig sei die Haltung dahinter.
Wer schwanger ist, zieht in einer Gruppe die Aufmerksamkeit auf sich. Die Neugierde ist gross. Wann ist es so weit? War es geplant? Bub oder Mädchen? «Hauptsache gesund», lautet dann die Standard-Antwort auf die Frage nach dem Geschlecht.
Schon Philosoph Arthur Schoppenhauer sagte: «Die Gesundheit ist zwar nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.»
Doch die Aussage «Hauptsache gesund» ist näher betrachtet längst nicht so harmlos, wie sie tönt.
Denn für einige hat sie auch eine ausschliessende Komponente. «Man sollte den Wert eines Menschen niemals daran messen, wie gesund er ist», mahnt die Mutter eines Kindes mit Downsyndrom auf Instagram.
Hauptsache, ein Kind sei gewollt, «der Rest ergibt sich», findet sie. Und Hauptsache, ein Kind sei geliebt, denn so werde alles andere zur Nebensache.
Sprüche zur Gesundheit würden zu Abtreibungen führen, zum Beispiel von Babys mit Behinderung, kritisiert die Mutter in ihrem Post weiter. «Denn wenn es die Hauptsache ist, also das Wichtigste, dass das Baby gesund ist, dann ist alles andere weniger wichtig und es kann den wichtigsten Punkt der Erwartungen nicht erfüllen», führt sie aus.
«Hauptsache gesund» sage sie selbst «auf jeden Fall nicht mehr».
Sie erhält viel Zuspruch für ihre Kritik. Doch es gibt auch Gegenstimmen. Eine Frau mit einer Herzkrankheit schreibt, dass «Hauptsache gesund» auch ihr wichtig sei. «Denn ohne Gesundheit ist gar nichts.»
Eine andere Mutter, die bereits einen Sohn mit Downsyndrom hat, hält fest: «Ich weiss nicht, was daran verwerflich ist. Manchmal hat das eine mit dem anderen nichts zu tun.» Gesundheit sei trotz allem das oberste Gut, findet sie.
«Wichtig ist immer die Haltung dahinter»
Das Thema polarisiert. Konrad Stokar, Geschäftsleiter Kommunikation und Interessenvertretung bei der Vereinigung Cerebral Schweiz findet, dass es «normal und absolut verständlich ist, dass sich Eltern das Beste wünschen für das Kind, das sie erwarten. Dazu gehört selbstverständlich, dass es gesund ist.»
Ebenso normal sei, dass es Kinder mit Behinderungen gibt, die ein Recht haben auf Teilhabe an allen Lebensbereichen, sagt Stokar, der selber mit einer Cerebralparese geboren wurde.
Er findet den Ausspruch «Hauptsache gesund» nicht per se diskriminierend. «Wichtig ist immer die Haltung dahinter, wenn jemand so etwas sagt.»
Es könne sich jemand gedankenlos äussern und Dinge trotzdem nicht diskriminierend meinen oder im Alltag sogar dazu beitragen, dass Barrieren abgebaut werden.
Auf der anderen Seite könne sich aber auch jemand politisch korrekt äussern und trotzdem Menschen mit Behinderungen anderweitig diskriminieren. «Es ist wie immer im Leben: Verallgemeinerungen helfen selten», betont Stokar.
Deshalb würde er auch nie jemandem Vorschriften machen wollen, wie hier zu antworten wäre. «Man erwartet in meinen Augen sowieso viel zu viel von Eltern.»
Dabei sei niemand perfekt. «Wichtig wäre mir, dass Eltern sich bewusst sind, dass es normal ist, dass es auch Kinder mit Behinderungen gibt», betont er. So sei es auch die Aufgabe als Vereinigung Cerebral Schweiz, Eltern und Betroffene hier zu unterstützen.
Menschenwürde statt Wert
Auch Peter G. Kirchschläger, Ethik-Professor an der Universität Luzern betont: «Natürlich ist der Wunsch nach einem gesunden Kind legitim. Gleichzeitig sollte man sich des potenziellen Risikos einer diskriminierenden Wirkung bewusst sein, denn selbstverständlich ist auch ein Kind mit einer Behinderung, beziehungsweise einer Krankheit gewünscht und willkommen».
Alle Kinder und alle Menschen seien Träger von Menschenwürde – bedingungslos, voraussetzungslos und gleich. Kirchschläger erläutert: «Darüber hinaus sprechen wir bei Menschen ganz bewusst nicht von «Wert», sondern von «Menschenwürde», um deutlich zu machen, dass wir Menschen kein Preisschild anhängen dürfen und dass bei Menschen ein absolutes Instrumentalisierungsverbot besteht.»
Menschen mit Behinderung integrieren statt ausgrenzen
Die Sorge um die Gesundheit ungeborener Kinder hat gemäss Nuria Frei vom Behindertendachverband Inclusion Handicap auch mit unserer Gesellschaft zu tun.
«In einer inklusiven Gesellschaft, an der Menschen mit Behinderungen gleich wie Menschen ohne Behinderungen teilhaben können, würde wohl auch diese Sorge vor der Geburt an Gewicht verlieren», hält die Anwältin und Fachmitarbeiterin Gleichstellungsrecht beim Dachverband der Behindertenorganisationen fest.
Zudem sei es wichtig, Behinderung nicht mit «nicht gesund» beziehungsweise «krank» gleichzusetzen.
«Gesellschaft, Recht und Politik sind immer noch sehr von einem medizinischen, defizitorientierten Verständnis von Behinderung geprägt anstelle von einem menschenrechtlichen Verständnis, wie es der UN-Behindertenrechtskonvention mit dem Konzept der Inklusion zugrunde liegt», so Frei.