Psychische Krankheitsfälle von Jugendlichen gehen durch die Decke
Zusätzlich zu den ohnehin steigenden psychischen Erkrankungen in Kindern und Jugendlichen sorgte die Coronapandemie für einen weiteren Anstieg.
Das Wichtigste in Kürze
- Seit Jahren sind immer mehr Kinder und Jugendliche von psychischen Störungen betroffen.
- Durch die Coronapandemie hat sich die Zahl weiter erhöht.
- Gleichzeitig gibt es immer weniger Fachkräfte auf dem Gebiet – ein riesiges Problem.
Die Covid-Pandemie und die damit einhergehenden Einschränkungen haben bei den meisten einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Durch den Lockdown wurde unser Leben teils stark eingeschränkt.
Etwas, das nicht an allen spurlos vorbeigegangen ist. Der Mangel an sozialen Kontakten sowie Ungewissheit und Angst um Verwandte wirkten sich stark auf die psychische Gesundheit mancher aus.
Insbesondere Kinder und Jugendliche hatten vermehrt Schwierigkeiten, den richtigen Umgang zu finden.
«Peer-Group wichtiger als Eltern»
«Gerade bei Jugendlichen ist die Peer-Group fast wichtiger als die Eltern», erklärt Ender Seba gegenüber dem «Tagblatt».
Er ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und CEO der Klinik Sonnenhof. Dies ist die einzige Klinik in St. Gallen, die stationäre psychiatrische Behandlungen für Kinder und Jugendliche anbietet.
Das Fehlen des sozialen Umfelds hat laut Seba sogar Auswirkungen auf psychisch stabile Jugendliche gehabt. Es habe beispielsweise die Depressivität leicht erhöht, Zukunftsängste ausgelöst oder zu Sorgen um Angehörige geführt.
Alltagsstruktur fehlte während Lockdown
Bei einer Vorbelastung seien die Folgen jedoch deutlich schlimmer gewesen. Denn: «Für eine psychische Erkrankung müssen meist mehrere Faktoren zusammenkommen», so Seba.
Zu diesen könnten unter anderem familiäre Konflikte, soziale Belastungen, schulische Herausforderung oder fehlende Unterstützung im Alltag gehören.
Die soziale Isolation sei ein weiterer Trigger gewesen, der zu den bereits vorhandenen Problemen hinzukam.
Manchen Jugendlichen würde ausserdem der Alltag helfen, mit solchen Problemen umzugehen, sagt der Facharzt. Durch die Pandemie fielen die Alltagsstrukturen jedoch meist weg.
Seba ist überzeugt: «Das hat zu einer deutlichen Verstärkung der Störungsbilder geführt, mit denen wir wiederholt konfrontiert waren.»
Schon zuvor vermehrt psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen
Die Pandemie führte zu erhöhtem Bedarf an psychotherapeutischer Hilfe bei jungen Menschen – zusätzlich zu ohnehin steigenden Zahlen psychischer Erkrankungen.
Schon seit den 1990er-Jahren sei ein Anstieg psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen sichtbar, bestätigt Suzanne Erb dem «Tagblatt». Erb ist Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste St. Gallen (KJPD).
«Die Pandemie hat diese Tendenz nur noch verstärkt und vor allem erstmals der breiten Öffentlichkeit bewusst gemacht», sagt sie.
Seit Jahren mehr Behandlungen
Tatsächlich behandelte die KJPD im Jahr 2023 5,5 Prozent mehr Patienten als noch im Vorjahr. Und das, obwohl bereits für die letzten sechs Jahre ein Anstieg an Behandlungen verzeichnet wurde.
Am häufigsten würden die Jugendlichen und Kinder aufgrund von Stimmungsschwankungen, Depressionen, selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität vorgestellt. Aber auch Angststörungen und Schulabsentismus würden zunehmen, so Erb.
Lange Wartezeiten aufgrund von Fachkräftemangel
Zusammen mit einem zunehmenden Fachkräftemangel in diesem Bereich stellt dies die behandelnden Kliniken vor grosse Herausforderungen.
«Bei uns sind alle Stationen voll belegt, und die Wartezeiten sind derzeit auch sehr lang», berichtet Seba von seiner Klinik.
In der Sonnenhof-Klinik müsse man – abgesehen von akuten Fällen – mit Wartezeiten von einem Monat rechnen. Damit sei die Situation verglichen zu anderen Kliniken sogar noch relativ gut.
Viele gehen in Pension – nur wenige rücken nach
Doch es bestünden keine guten Aussichten: «Wir könnten in den nächsten Jahren schweizweit mehrere Hundert Fachärzte verlieren», so Seba. «Das ist ein riesiges Problem!»
Viele der Fachkräfte würden kurz vor der Pensionierung stehen. Die Nachfolge sei nicht gedeckt.
Die Arbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie scheint nicht genügend Anklang bei anstrebenden Medizin- und Psychologie-Studierenden zu finden. Sowohl die Bezahlung als auch die gesellschaftliche Wertschätzung seien zu gering.
«Wenn man sieht, wie sich die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in den nächsten Jahren entwickeln soll, finde ich es sehr schade, dass dieses Feld nicht attraktiver gestaltet wird», sagt Seba.