Roman «Schattengänger» erinnert an «Fenster zum Hof»

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Zürich,

Sachbuchautorin Gina Bucher hat ihren ersten Roman geschrieben – über Einsamkeit.

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Ein Buch. (Symbolbild) - Keystone

In «Schattengänger» überzeugt sie mit genauen Beobachtungen der Gesellschaft. Sie schafft es anhand verschiedener Perspektiven, die Spannung bis zum Ende zu halten

Man weiss: Jo Graber arbeitet auf der Stadtverwaltung, beim Bauamt. Man weiss auch, dass der Mann regelmässig seine Mutter im Heim besucht. Dass er selber zur Ärztin geht, weil er ein Augenleiden hat. Und dass er seinen Fernseher einschaltet, immer gegen 22 Uhr, dann, wenn die Tagesschau läuft. Die letzte Information stammt von einem Herrn namens Remigio, nur einer von vielen Bewohnerinnen und Bewohnern, die in der gleichen Siedlung wie Jo Graber leben.

Autorin Gina Bucher, geboren 1978, aufgewachsen in Luzern, hat in ihrem Debütroman ein dichtes Netz aus verschiedenen Lebensentwürfen geflochten. Schauplatz dieser vielen Geschichten ist ein namenloses Quartier mit Mietblöcken in verschiedenen Farben. Jo Graber, der Mann, den niemand wirklich kennt, von dem aber alle wissen, dass es ihn gibt, ist der Mittelpunkt dieses Universums. Oder auch wieder nicht.

Denn Bucher liefert die Infos über Jo Graber in Häppchen, die Nachbarn erzählen die Geschichte, zum Beispiel Remigio, Jo Grabers Ärztin oder seinen Arbeitskollegen. Mit ihren Gedanken malen sie ein Bild des Unbekannten, der empörenderweise zum Grillfest erscheint; gleichzeitig geben sie Details aus ihrem eigenen Leben preis.

Man weiss nicht: War Robin, ein Mädchen aus der Siedlung, wirklich zu Jo Graber zu Besuch? Wer hat ihn zum Fest eingeladen, obwohl er doch von den meisten gar nicht erwünscht war? Hat er Kinder, ist er Grossvater, will er denn gar nicht in den Urlaub fahren? Und dann: Warum und wohin ist er verschwunden?

Gina Bucher hat sich mit profund recherchierten und spannend erzählten Sachbüchern einen Namen gemacht. Zuletzt erschienen sind etwa 2018 Geschichten über das Scheitern («Der Fehler, der mein Leben veränderte») oder über die Liebe: «Ich trug ein grünes Kleid, der Rest war Schicksal» (2016).

Mit «Schattengänger» nimmt sie sich des Themas Einsamkeit an. Kein leichtes Unterfangen. Die Autorin sagt der Nachrichtenagentur Keystone-SDA: «Ich merkte schnell, dass ich mich dem Thema zwar dokumentarisch nähern konnte, aber fiktional darüber schreiben musste. Sonst wäre es ein tieftrauriges Buch geworden.»

Das ist es nun aber nicht. Sondern eine spannende Geschichte über Vereinsamung in einer superindividualisierten Gesellschaft, in der es Freundschaften oft schwer haben. Gina Bucher hat unter anderem Filmwissenschaften studiert. Diese Erfahrung dringt im Roman auf sanfte, aber eindrückliche Weise durch – selten liest man solch klare und detailgetreue Beobachtungen. Und ja: Man denkt beim Lesen unweigerlich an Hitchcocks «Das Fenster zum Hof», dem Thriller, in dem ein Mann seine Nachbarschaft auf dem Innenhof beobachtet.

Fiktionales Schreiben für Autorin auch Befreiung

Am stärksten ist Gina Bucher, wenn sie Aktionen beschreibt: «Ich logge mich ein und klicke mich durch etliche Formulare. Um den Hort während der Urlaubswochen zu buchen, das Ballett zu verschieben, den Impftermin abzumachen und die letzte Arztrechnung an die Krankenasse weiterzugeben», das sind die Gedanken von Dagy, einer Mutter im Quartier. Nicht nur bei ihr beschreibt Gina Bucher bis ins kleinste Detail, wie Alltagsdinge aussehen oder Tätigkeiten ausgeführt werden.

Das mag manchmal etwas simpel scheinen, man kann es aber auch als Kunstform verstehen: «Ich esse viele Chips, wenn ich nicht am Fenster stehe und kiffe», erfährt man zum Beispiel über Kris, der den Schattengänger Jo in der Nacht heimlich auf seinen Spaziergängen beobachtet. «Ein Nerd, seufzte meine Ex-Freundin gern, kiffen, Chips und gamen.» In den wenigen Sätzen erfährt man auch etwas über Kris’ Vergangenheit (und Jo Grabers Gegenwart).

Für die Autorin war das fiktionale Schreiben auch eine Befreiung. «Ich konnte mich lösen von den – wahren – Geschichten anderer Leute. Absurderweise stellte sich gerade das auch als schwierig heraus: In der Fiktion muss ich viel genauer erzählen, um glaubwürdig zu sein. Bei den realen Erzählungen war das dagegen nie ein Problem: Sie konnten noch so bizarr sein – so lange sie 'wahr' sind, werden sie geglaubt.»

Menschen, die zu Hause sitzen und ihre Umgebung betrachten (und manchmal beurteilen), die Situation erinnert an die Pandemie, an Lockdowns, in denen man gezwungen war, sich im kleineren Radius zu bewegen. Erstaunlich ist, dass Gina Bucher die Arbeit zu «Schattengänger» davor aufgenommen hatte. Die Idee, über Einsamkeit zu schreiben, habe sie lange mit sich herumgetragen. Dass alles stillgestanden hat für eine gewisse Zeit, «blockierte mich kurz», habe ihr dann aber gut gepasst. Im Roman selber ist die Pandemie kein Thema. Rückzug und die vielleicht damit verbundene Isolation und Vereinsamung aber sehr wohl.*

*Dieser Text von Nina Kobelt, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

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