Was der Krieg in der Ukraine in der Schweiz ausgelöst hat
Der Krieg in der Ukraine hat in Europa, und damit auch in der Schweiz, viel ausgelöst. Hier gibt es einen Überblick.
Ein Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ist immer noch Krieg im Osten Europas. Das hat auch in der Schweiz vieles ausgelöst. Dazu gehört das Mitziehen bei EU-Sanktionen gegen Russland, die Diskussion über Neutralität und Waffenlieferungen aus Drittstaaten sowie die Aufnahme zehntausender Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Ein Überblick:
POLITISCHE REAKTIONEN: Noch am Tag des russischen Überfalls am 24. Februar 2022 verurteilt das Aussendepartement EDA in Bern die «Invasion» auf das Schärfste und fordert Moskau zur sofortigen Einstellung der «militärischen Aggression» und zum Rückzug der Truppen aus der Ukraine auf. Schweizer Botschaftspersonal verlässt Anfang März die ukrainische Hauptstadt Kiew; die Botschaft wird vorübergehend geschlossen und öffnet erst am 19. Mai wieder.
Ende April hält sich Nationalratspräsidentin Irène Kälin (Grüne/AG) mit einer Parlaments-Delegation in Kiew auf. Mit dabei sind Roger Nordmann (SP/VD) und Yves Nidegger (SVP/GE). Am 23. September wirft die diplomatische Vertretung der Schweiz in Kiew Russland offen ein «barbarisches Besatzerregime» im Nordosten der Ukraine vor. Eine Woche später verurteilt die Schweiz die Annexion ukrainischer Gebiete durch Russland als «schwerwiegende» Verletzung des Völkerrechts.
Auf dem Landweg reist Bundespräsident Ignazio Cassis nach Kiew und trifft dort am 20. Oktober seinen ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj. Am 12. Januar dieses Jahres kritisiert Cassis als Aussenminister vor dem Uno-Sicherheitsrat (wo die Schweiz nun für zwei Jahre Mitglied ist) den russischen Angriffskrieg in der Ukraine.
SOLIDARITÄT: Noch am 24. Februar protestieren in Bern Ukrainer und Schweizer gegen die militärische Aggression. Keine zwei Wochen später protestieren zehntausende Menschen in verschiedenen Schweizer Städten gegen den russischen Angriffskrieg.
Schon kurz nach Kriegsausbruch beginnt die Schweiz mit der Lieferung von Hilfsgütern an die Ukraine. Bis Mitte Mai sind es über 500 Tonnen. Weitere 100 Tonnen folgen im August. Die Ukraine-Wiederaufbau-Konferenz Anfang Juli in Lugano endet mit einer Schluss-Deklaration: Der Wiederaufbau- und Entwicklungsplan für die Ukraine wird mit einer umfassenden Reformagenda verknüpft.
SANKTIONEN: Vier Tage nach der russischen Invasion in die Ukraine schliesst sich die Schweiz am 28. Februar ersten EU-Sanktionen gegen Russland an. Mitte März setzt die Schweiz weitere 197 Personen und neun Unternehmen aus Russland auf die Sanktionsliste, und Ende März übernimmt der Bundesrat weitere EU-Sanktionen gegen Russland.
Anfang April sind bereits Vermögenswerte in der Höhe von 7,5 Milliarden Franken in der Schweiz gesperrt auf der Basis der Sanktionen wegen des Krieges in der Ukraine. Allerdings stellt sich der Bundesrat Ende Mai gegen die Forderung der SP nach Schaffung einer Taskforce zur Sperrung russischer Vermögenswerte.
Mitte April will der Bundesrat neue Sanktionen der EU gegen Russland und Massnahmen gegenüber Belarus übernehmen. Es handelt sich um Elemente aus dem fünften Sanktionspaket der Europäischen Union. Weitere EU-Sanktionen gegenüber diesen beiden Ländern übernimmt die Schweiz im Juni – unter anderem ein Embargo auf Rohöl. Im August wird der Kauf von Gold aus Russland verboten, ebenso dessen Einfuhr und der Transport.
EU-Sanktionen gegen Iran übernimmt die Schweiz Anfang November. Sie betreffen Drohnen-Hersteller, die nach Russland liefern, und ranghohe iranische Militärs. Ende November übernimmt die Schweiz weitere Sanktionen der EU gegen Russland und schafft damit eine Rechtsgrundlage für eine Preisobergrenze für russisches Rohöl und Erdölprodukte. Ausserdem suspendiert die Schweiz die Amtshilfe für Russland. Kurz vor Weihnachten setzt die Schweiz abermals neue EU-Sanktionen gegen Russland in Kraft.
NEUTRALITÄT: Mitte März, kaum drei Wochen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, kündigt alt Bundesrat Christoph Blocher die Lancierung einer Volksinitiative zur Schweizer Neutralität an. Wirtschaftliche Sanktionen wie jene gegen Russland sollen nicht mehr möglich sein. FDP-Präsident Thierry Burkart seinerseits fordert Anfang April eine Neuausrichtung der Schweizer Sicherheitspolitik und eine engere Anlehnung an die Nato.
Die Definition der Schweizer Neutralität wird nun zunehmend in Frage gestellt. Für Bundespräsident Ignazio Cassis bedeutet Neutralität, mit Ländern zusammenzuarbeiten, die im Einklang mit den helvetischen Prinzipien stehen, wie er Ende Juni betont. Anfang September hält der Bundesrat fest, die Schweiz solle bei der Neutralität bleiben, aber dabei ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik konsequenter auf internationale Zusammenarbeit ausrichten.
Am Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos im Januar dieses Jahres gerät die Schweizer Neutralität erneut in die Kritik: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko fordern Haltung statt Abseitsstehen, und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagt, beim russischen Überfall auf die Ukraine gehe es nicht um Neutralität.
Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats (SIK-N) fordert Ende Januar, dass in der Schweiz hergestellte Waffen unter gewissen Umständen von anderen Ländern an kriegführende Staaten weitergegeben werden können – zum Beispiel Munition für die Ukraine.
ENERGIE: Bereits eine gute Woche nach dem russischen Überfall auf die Ukraine beschliesst der Bundesrat Anfang März 2022 Massnahmen zur Gasversorgungssicherheit für den kommenden Winter. Im April sind Strom, Gas und Kohle so teuer wie niemals zuvor.
Ende August lanciert der Bundesrat eine Kampagne unter dem Motto «Energie ist knapp. Verschwenden wir sie nicht». Zu den Empfehlungen an die Bevölkerung gehören das Absenken der Heiztemperatur, ein geringerer Warmwasserverbrauch, das Abschalten elektrischer Geräte oder der Beleuchtung sowie das energiesparende Kochen und Backen. Verordnungen sollen die Raumtemperatur bei Gasheizungen auf 19 Grad beschränken. Die Empfehlungen zeigen Wirkung, wie sich bereits im November herausstellt – allerdings auch dank einem milden Herbst.
Der Bundesrat bewilligt zudem den Bau eines Gas-Reservekraftwerks in Birr im Kanton Aargau. Aber ein Dreivierteljahr später ist der Spuk um einen möglichen Energiemangel oder gar -notstand vorbei: Anfang Februar dieses Jahres kostet Gas im Grosshandel wieder weniger als vor dem Beginn des Ukraine-Krieges.
FLÜCHTLINGE: Der vom Bundesrat gut zwei Wochen nach Kriegsbeginn beschlossene Schutzstatus S für Flüchtlinge aus der Ukraine stösst auf breite Zustimmung: Alle Bundesratsparteien – SVP, SP, FDP und Mitte – befürworten die Massnahme vom 11. März Allerdings hätte sich die SVP Einschränkungen gewünscht.
Mitte Mai, knapp drei Monate nach dem russischen Überfall, steigt die Zahl der in der Schweiz registrierten Flüchtlinge aus der Ukraine auf über 50'000. Bis Ende des Jahres erhalten über 70'000 Menschen den Schutzstatus S, bis Mitte Februar 2023, knapp ein Jahr nach der russischen Invasion, sind es rund 75'000. Der Bundesrat hat den Schutzstatus S zuvor – am 9. November – um ein Jahr verlängert.