Unser Kolumnist staunt über die egomanen Fantasiewelten, in die sich viele ehemals vernünftige Menschen aus Unsicherheit in der Pandemie flüchten.
reda el Arbi
«Fadegrad»-Kolumnist Reda El Arbi: «Es gibt kein Menschenrecht auf einen Twitter-Account.» - Nau.ch

Das Wichtigste in Kürze

  • Nau.ch-Kolumnist Reda El Arbi ist verwundert über die Umkehr vieler Linksalternativer.
  • Reda El Arbi erlangte als Blogger und Journalist Bekanntheit.
  • Bis 2011 war er Chefredaktor des Satiremagazins «Hauptstadt».
  • Er lebt mit Frau und zwei Hunden in Stein am Rhein SH.
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In letzter Zeit drehen viele meiner Bekannten aus dem linksalternativ-grünen Spektrum, die sich bisher vielleicht etwas verschroben mit Esoterik befassten, in eine regelrecht alternative Realität ab. Es sind also bei weitem nicht nur die rechten Trotzköpfe oder die libertären Möchtegern- Freiheitskämpfer, die sich aktiv gegen den Schutz der Gemeinschaft stellen.

Die selbsternannten Spirituellen rutschen immer stärker in den Sumpf antiwissenhaftlicher Märchen und säuselnder Realitätsverleugnung, immer mit einem süsslichen Lächeln auf den Lippen. Neuestes Beispiel in meinem Umfeld ist der lokal bekannte, selbsternannte Guru, der stolz ohne Maske überlegen lächelnd in den Volg marschierte. Nach der Reaktion des Personals, die sonst auf sowas immer ziemlich harsch reagieren, muss er wohl einen dieser Fake-Maskendispens haben. Er ist übrigens Raucher, wie ich ...

Normalerweise hab ich nichts gegen Esoteriker*Innen, die sich ein eigenes kleines Erklärungsmodell für die komplexe und unkontrollierbare Realität zusammenstiefeln und damit glücklich sind. Solange sie nicht andere gefährden oder der Gemeinschaft Schaden zufügen, ist das deren Privatsache.

In Zeiten einer Pandemie ist aber bestimmtes Verhalten nicht mehr einfach nur «Privatsache». Darunter fallen zum Beispiel die Maskenpflicht, die Einhaltung der Massnahmen oder das Verbreiten von gefährlichem Bockmist und FakeNews aus der Verschwörungsecke.

Ich les immer häufiger bei Bekannten auf Facebook, Twitter und lustigerweise auch auf Instagram, dass sie eine «spirituelle Lösung» für Corona gefunden hätten. Wo sie bisher vielleicht nur etwas Yoga, Reiki oder Meditation mit einem eher etwas infantilen Verständnis von «Spiritualität» verbunden haben, scheinen sie sich aus Unfähigkeit, einer echten, schwierigen Krise ins Auge zu blicken, völlig in eine esoterische Psychose gesteigert zu haben. Parallel dazu kommen dann die allseits bekannten Youtube-Fachleute ...

Sie erzählen zum Beispiel, dass nur Leute Corona bekommen können, die sich nicht mit «positiver Energie» schützen. Wer im inneren Gleichgewicht sei, habe nichts zu befürchten. Oder sie denken, dass sie mit irgendwelchen Übungen ihren Körper darauf trainieren können, das Virus ohne Probleme abzuwehren. Sie legen sich quasi ein übernatürliches Immunsystem zu.

Wieder andere verbreiten die frohe Botschaft von irgendwelchen Spezialdiäten, Wundermittelchen und speziellen Übungen, die gegen Corona wirken sollen. Tee, Pülverchen, Aktivierung des Chi, des inneren Lichts, der Chakras, des biomagnetischen Felds, Channeling von Engeln und Lichtwesen, alles soll gegen Corona schützen. Bestimmte Farben oder Zahlen sollen die Infektion vertreiben, bestimmte Metalle oder Kristalle sollen das Virus in der Luft abtöten. Es gibt sogar solche, die das Virus selbst als «spirituelle Schwäche» anschauen, also die reale Existenz des Virus leugnen. Ein wahrlich spiritueller Mensch hat nichts zu fürchten, wenn er XY glaubt, Pülverchen YZ nimmt, seine Wohnung regelmässig mit der Dingsda-Wurzel ausräuchert oder der Lehre von Guru Blabla folgt ...

Aus spiritueller Sicht ist das natürlich alles Bullshizzle. Die meisten dieser 5-Watt-Erleuchteten haben nur einen einzigen Fokus: Das ICH. Sie vermitteln, dass die esoterische Selbstoptimierung zu einer Lösung für die Pandemie führe. Dabei geht nur ums Ego und die individuelle Wahrnehmung der Welt, nicht um die Beschaffenheit der Realität. Alles, was sie vermitteln, ist ein psychologischer Trick, um sich selbst etwas besser zu fühlen, oft, indem sie einfach die Realität ausblenden oder so uminterpretieren, dass sie kontrollierbarer, weniger gfürchig erscheint. Sie sind quasi ein Drogenersatz mit sanfter Stimme, Räucherstäbchen und wallenden Gewändern. Spiritualität kommt aber von Geist - nicht dem gespenstigen, sondern dem des Bewusstseins - und beinhaltet die Achtsamkeit gegenüber der Gesellschaft. Wer einen spirituellen Weg einschlägt, der nur dem eigenen Wohlbefinden dient und das ICH im Zentrum hat, bläst nur sein Ego auf und gefährdet in einer Pandemie die anderen Menschen. Das ist böser Shizzle fürs Karma, wirklich.

Versteht mich nicht falsch. Ich denke auch, dass Komplementärmedizin eine gute Sache ist, als Ergänzung zur Schulmedizien. Ich denke, dass manche Übungen und einige Naturheilmittel effektiv das Immunsystem stärken können. Das heisst nicht, dass dieses Zeugs irgendwie gegen Corona schützt. Man ist dann vielleicht etwas schneller wieder gesund. Wenn man Glück hat. Und gegen die Verbreitung des Virus, für den Schutz der Allgemeinheit, nützt es gar nichts. Gar. Nichts. Für wahre Spiritualität muss man sein Gehirn nutzen, nicht seinen Astralkörper oder die Chakras.

Ich denke auch, dass eine positive Einstellung zum eigenen Leben und zu eigenen Körper der Gesundheit förderlich ist. Himmel, ich glaub sogar daran, dass Meditation zur vollständigen Kontrolle über den eigenen Körper führen kann. Natürlich nur, wenn man in der Abgeschiedenheit Tibets ab dem achten Lebensjahr 50 Jahre lang 16 Stunden am Tag meditiert. Nicht, wenn man fünf spirituelle Ratgeber gelesen, ein paar Reiki-Übungen gemacht, ein paar Mantras in Sanskrit gesungen und den Gong geschlagen hat.

Am Schlimmsten in dieser Gruppe sind die Impfgegner, die sich auf die «natürliche Kraft» des eigenen Körpers berufen. Vor dem Zeitalter der Impfungen sind die Leute an Viren meist einfach abgenibbelt. Zack, tot, ganze Landstriche. Viren sind nämlich auch eine «natürliche Kraft», quasi der Chuck Norris unter den «natürlichen Kräften». Und Impfen ist die Kampfausbildung des Immunsystems. Natürlich können Impfungen auch Nebenwirkungen haben. Nur sind die Nebenwirkungen im Vergleich zur Krankheit ein Witz.

Ein lustiger, kleiner Aspekt der ganzen Szene ist, dass man zwar auf den sozialen Medien häufig Frauen findet, die zu kitschigen Bildchen Weisheiten und Sprüche verbreiten, die vor Corona schützen sollen. Geht man dem aber etwas nach, findet man im Hintergrund immer einen narzisstischen Guru, einen Mann, der diesen Bullshit predigt. Das Bedürfnis nach einem Führer scheint in einer Krise nicht nur bei Rechtsnationalen immanent zu sein, auch bei linksgrün-versifften Esoteriker*Innen ist das Bedürfnis da, dass ein starker Mann eine einfache Lösung bringt oder wenigstens die Realität weglügt.

Und weil das so ist, werde ich wohl meine eigene Sekte gründen. Einen netten Bart trage ich ja schon. Wir tragen auch wallende Gewänder und von mir aus können meine Jüngern*Innen auch Räucherstäbchen abbrennen. Und zwischen den Gongschlägen lese ich mit salbungsvoller Stimme aus den neuesten Forschungsarbeiten im Bereich Medizin, Epidemiologie, Statistik und Biologie vor.

Das gibt dann vielleicht auch etwas Trost. Und es hilft, der harten Realität ins Auge zu sehen, ohne sich in alternative Welten zu flüchten.

reda el Arbi
«Fadegrad»-Kolumnist Reda El Arbi: «Es gibt kein Menschenrecht auf einen Twitter-Account.» - Nau.ch
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