Wahlen 2019: Junge Grüne ortet Mangel an Pflegepersonal
Anika Brunner, Nationalratskandidatin der Jungen Grünen Zürich, kritisiert den Bundesrat. Er mache zu wenig gegen den Pflege-Fachkräftemangel. Ein Kommentar.
Das Wichtigste in Kürze
- In der Schweiz herrscht ein chronischer Mangel an Pflegepersonal.
- Das Problem wird sich nicht von selbst lösen, die Gesellschaft wird immer älter.
- Der Bedarf an Pflegepersonal wird bis 2025 um 20% steigen.
Die Gesundheitskosten und Krankenkassenprämien stehen weit oben auf dem Sorgenbarometer der Schweizer Bevölkerung. Hand in Hand mit der Kostenfrage geht der, in allen Bereichen der Pflege, allzeit präsente Personalmangel. In der Schweiz sind die Pflegefachleute die Berufsgruppe mit dem höchsten Personalmangel. Seit Jahren wird nicht einmal die Hälfte des Bedarfs an diplomierten Pflegefachleuten ausgebildet. Und fast die Hälfte aller Pflegenden geben an, dass sie ihren Beruf aufgeben wollen.
Die zentrale Ursache des Pflegefachmangels in der Ökonomisierung der Pflege. Veranschaulichen würde ich dies gerne an einem realen Beispiel aus meinem Berufsalltag:
Der 50-jähriger Herr Müller kommt nach einem Schlaganfall ins Pflegeheim. Er ist auf einen Rollstuhl angewiesen und in weiteren Bereichen seines Alltags stark eingeschränkt. Das prioritäre Ziel in der Langzeitrehabilitation ist nun, ihn darin zu unterstützen seine Selbständigkeit wieder zu erlangen. Das benötigt Zeit und Energie – und zwar viel davon. Nehmen wir das Beispiel Körperpflege: duscht er sich selbst und ich als Pflegefachfrau begleite ihn dabei, leite ihn gelegentlich verbal an und unterstützte ihn in jenen Bereichen, bei denen er Hilfe braucht.
So benötigen wir für die Dusche plus das anschliessende Anziehen locker einmal eine Stunde. Nun meist habe ich aber diese Stunde gar nicht zur Verfügung, in derselben Zeit bin ich verantwortlich für vier weitere Bewohner und Bewohnerinnen, auch diese sind darauf angewiesen, dass jemand sie unterstützt in ihrer Alltagsgestaltung, sei das nun z.B. in der Mobilität oder bei der Einnahme der Medikamente. Übernehme ich die Dusche und das Anziehen von Herr Müller, so benötigen wir max. 20-30 Minuten.
Auf den ersten Blick wäre dies wirtschaftlich effizienter. Auch wenn wir bei der ökonomischen Sichtweise auf die Pflege bleiben, bei zweiten Mal hinschauen zeigt sich: Hätte ich Variante 2 gewählt, so hätte ich kurzfristig gesehen mehr Zeit gebraucht, durch das Training und die Therapie hätte Herr Müller jedoch die Möglichkeit seine Selbständigkeit wieder zu erlangen. Langfristig bräuchte Herr Müller dadurch weniger Unterstützung, also ist der Pflegeaufwand geringer, sprich es kommt zu tieferen Kosten. Abgesehen vom ökonomischen Kontext, der viel wichtigere Punkt: die Steigerung des Wohlbefindens und der Lebensqualität von Herr Müller.
Doch durch erhöhten Leistungsdruck und Personalmangel kann oft nur das Minimum an Pflege geleistet werden. Kein Wunder wechseln viele meiner Berufskolleginnen den Job. Es gibt nichts Unbefriedigenderes als nach Hause zu gehen und zu wissen, dass man bei aller Anstrengung den Anforderungen nicht gerecht werden kann.
Zusätzlich zum Ökonomisierungsdruck nimmt die Zahl der Patienten und Patientinnen im Zuge der Demografie und neuen medizinischen Möglichkeiten stetig zu. Wir haben es heute mit Menschen mit deutlich komplexeren gesundheitlichen Situationen zu tun. Chronische Erkrankungen mit einem erhöhten Pflegebedarf sind auf dem Vormarsch. Dies benötigt die Expertise von gut ausgebildetem Personal. Doch in der Praxis findet eine entgegengesetzte Entwicklung statt: Weniger qualifiziertes Pflegepersonal, dafür mehr Hilfskräfte. Diese Formel mag sich auf die Finanzen der betroffenen Gesundheitsinstitution positiv auswirken. Doch dieser Personalabbau ist fatal. Es ist kurzfristig zu meinen, dass man damit Geld spare. Denn viel Geld fliesst in die Behandlung von Komplikationen, die nicht aufgetreten wären, mit gut ausgebildetem Personal. Zudem wird den Pflegehelfer und Pflegehelferinnen zu viel Verantwortung aufgebürdet. Hier wird am falschen Ort gespart!
Die Schweiz ist zudem zunehmend auf die internationale Rekrutierung angewiesen, und zwar viel stärker als die Gesundheitssysteme der umliegenden Länder. Dieses Phänomen hat internationale Auswirkungen. Durch Abwanderung von qualifizierten Pflegefachleuten entstehen in deren Herkunftsländer nicht nur Versorgungslücken, sondern diese gehen auch ihren Bildungsinstitutionen verloren.
Aus diesen Gründen wurde die eidgenössische Volksinitiative «Für eine starke Pflege» vom Schweizer Berufsverband der Pflegefachleute (SBK) im Januar 2017 lanciert und im selben Jahr noch eingereicht. Die Ziele der Initiative ist, dass der Bund und die Kantone die Pflege als wichtigen Bestandteil der Gesundheitsversorgung fördern. Sie sollen garantieren, dass genügend Pflegefachpersonen ausgebildet werden und eine für allen zugängliche Pflege von hoher Qualität sichergestellt ist. Ausserdem soll auch die Attraktivität der Pflegeberufe gesteigert werden. Beispielsweise dadurch das von Pflegefachpersonen eigenverantwortlich erbrachte Leistungen selbständig mit den Krankenkassen abgerechnet werden können.
Der Bundesrat verkannte jedoch die Dringlichkeit etwas gegen den Fachkräftemangel zu tun und lehnte die Pflegeinitiative ab. Im Gegensatz dazu nahm die Gesundheitskommission des Nationalrats die Anliegen der Pflegeinitiative ernst und erarbeitet einen indirekten Gegenentwurf. Dieser kam Mitte Mai in die Vernehmlassung.
Es ist wichtig zu sehen, dass sich das Problem in den nächsten Jahren nicht etwa von selbst löst. Im Gegenteil: im Jahr 2045 werden doppelt so viele Leute über 80 Jahre alt sein, wie heute. Der Bedarf an Pflegepersonal wird, laut dem Versorgungsbericht der Gesundheitsdirektorenkonferenz, bis 2025 um gut 20 Prozent steigen. Fast jede Person benötigt im Verlauf ihres Lebens Pflege, entweder zu Hause, im Spital oder im Heim. Betriebswirtschaftliche Theorien, die oft im Kontext mit der Güterproduktion entwickelt worden sind und auf pflegespezifische Anforderungen wenig Rücksicht nehmen, können gar nicht adäquat auf das Gesundheitswesen angewendet werden. Ohne Pflegende würde das System zusammenbrechen. Sparen am Personal kann im Gesundheitswesen tödlich enden.