Die Theorie des klinischen Endocannabinoid-Mangels

Franziska Quadri
Franziska Quadri

Zürich,

oder wieso Cannabis-Arzneimittel bei der Behandlung von Migräne, Fibromyalgie und Reizdarmsyndrom helfen könnten.

© Michal Jarmoluk, Pixabay
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Das Wichtigste in Kürze

  • Eine Mangel an körpereigenen Endocannabinoiden könnte für die Entstehung dieser Krankheiten verantwortlich sein.
  • Diese Theorie wurde 2004 vom renommierten «Cannabisforscher» Dr. Ethan Russo aufgestellt.
  • Russo vermutet, dass ein tiefer Endocannabinoid-Spiegeln erklären könnte, warum chronische Krankheiten entstehen.

Das Endocannabinoid-System ist ein chemisches Kommunikationssystem mit dem Ziel, die Homöostase (Gleichgewicht) im menschlichen Körper aufrechtzuerhalten. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigten, dass das ECS mehrere Bewusstseinszustände kontrolliert. Es steuert, um nur einige zu nennen, die Schlaf-Wach-Zyklen, die Emotionen, das Schmerzempfinden, die Aufmerksamkeit und andere wichtige neurobiologische Prozesse.

Der klinische Endocannabinoid-Mangel

Die Forschungsergebnisse lassen vermuten, dass beim klinischen Endocannabinoid-Mangel (Clinical Endocannabinoid Deficiency Syndrome) der Körper nicht genügend Endocannabinoide oder die dazugehörenden Rezeptoren produziert. Das ECS kann nicht mehr wie gewünscht funktionieren. Deswegen werden viele Funktionen nicht richtig reguliert und der Körper kommt aus dem Gleichgewicht. Infolgedessen wird der Körper krank. Diese Theorie wurde 2004 vom renommierten «Cannabisforscher» Dr. Ethan Russo aufgestellt. In einer Studie, die im «Neuro Endocrinology Letters» veröffentlicht wurde, stellte Russo die These auf, dass ein tiefer Endocannabinoid-Spiegel erklären könnte, warum sich einige chronische Krankheiten entwickeln.

Russo untersuchte die verfügbare Literatur und fand darin Beweise, dass Menschen mit bestimmten Erkrankungen tiefere Endocannabinoid-Werte aufweisen. Dadurch erklärte er sich auch die lindernde Wirkung der Cannabinoide der Cannabispflanze auf die Symptome dieser Personen. Russo ist der Meinung, dass möglicherweise Cannabinoid-Arzneimittel diesen vermuteten Mangel ausgleichen könnten. Das war die Schlussfolgerung seines Berichtes. Cannabispflanzen enthalten eine Vielzahl von Cannabinoiden. Diese pflanzlichen Cannabinoide sind den körpereigenen Endocannabinoiden sehr ähnlich und interagieren ebenfalls mit den Cannabinoidrezeptoren des ECS. Sie lösen chemische Reaktionen aus und tragen zur Homöostase im Körper bei.

Endocannabinoid-Mangel kann mit vielen Erkrankungen in Verbindung gebracht werden

Chronische Erkrankungen wie Migräne, Fibromyalgie und Reizdarmsyndrom weisen gemeinsame klinische, biochemische und pathophysiologische Muster auf, die auf einen zugrunde liegenden klinischen Endocannabinoid-Mangel hinweisen könnten. Gerade bei diesen Erkrankungen tut sich die Medizin schwer, eine richtige Therapiemöglichkeit zu finden. Oft helfen die pharmazeutischen Medikamente nur kurzfristig oder gar nicht. Die Patientinnen und Patienten haben zum Teil alles ausprobiert und sind verzweifelt. Dadurch wird ihnen oft der «psychosomatische Stempel» aufgedrückt. Die Gemeinsamkeit in der Symptomatik diese Erkrankungen könnte aber auch, wie von Russo vermutet, auf einen klinischen Endocannabinoid-Mangel zurückzuführen zu sein. Seine Grundhypothese lautet, dass jeder Mensch ein Endocannabinoid-Tonus hat. Dieser zeigt den Spiegel der körpereigenen Endocannabinoide im Körper an. Dieser Tonus kann unter bestimmten, angeborenen oder über die Zeit erworbenen Defizite mangelhaft sein und längerfristig ernsthaft krank machen.

Das Endocannabinoid-System ist aber auch für die Regulierung der Freisetzung von Neurotransmittern verantwortlich, sodass Krankheiten, die auf eine Funktionsstörung zurückzuführen sind wie zum Beispiel Alzheimer und Parkinson, möglicherweise auch mit einem klinischen Endocannabinoid-Mangel in Zusammenhang stehen könnten. Russo glaubt, dass die Cannabinoide aus Cannabispflanzen essentielle Nährstoffe sind, die bestimmte Krankheiten minimieren können, indem sie das ECS unterstützen und dessen Funktion sicherstellen.

Die Forschung muss verstärkt werden

Im Moment fehlen noch schlüssigere Beweise und bessere klinische Studien, um die Theorie des klinischen Endocannabinoid-Mangels endgültig zu beweisen. Gegenwärtig sind statistisch signifikante Unterschiede bei Migränepatienten dokumentiert und Untersuchungen haben eine ECS-Unterfunktion bei einer posttraumatischen Belastungsstörung gezeigt. Andere Studien haben ebenfalls solide Grundlage für die Theorie geliefert. So ist bekannt, dass bei Behandlung mit Cannabinoiden Schmerzen verringert und der Schlaf verbessert wird. Das sind weitere, klare Indizien dass die Behandlung mit Cannabis sinnvoll ist und bei vielen Krankheiten und Störungen eine lindernde Wirkung hat.

Kranken Menschen ist es aber eigentlich egal, ob sie an einem klinischen Endocannabinoid-Mangel leiden. Hauptsache sie finden ein Arzneimittel, das ihnen hilft. Einigen könnte es zwar sicher helfen, mit einer klaren Diagnose zu verstehen, was ihnen fehlt. Wichtig ist, dass die Menschen endlich unbeschränkten Zugang zu der jahrhundertalten Heilpflanze erhalten. Hunderttausende haben weltweit gemerkt, wie hilfreich ihnen Cannabis als Medikament sein kann. Das sollte doch Beweis genug sein. Und doch wird immer wieder von Seiten der Behörden und der Politik auf weitere klinische Studien gepocht. Die wissenschaftlichen Beweise sind wichtig, um in Zukunft mehr zu verstehen und die Therapien zu verbessern. Das Problem ist aber, dass sich in den letzten 30 Jahren nur wenige mit der Forschung über Cannabis auseinandergesetzt haben, obwohl damals die bahnbrechende Entdeckung des Endocannabinoid-Systems gemacht wurde. Sicher hat es damit zu tun, dass die restriktiven Betäubungsmittelgesetze in vielen Ländern eine Forschung verunmöglichten. Dazu kommt aber sicherer auch, dass klinische Studien nur zu realisieren sind, wenn die Pharmaindustrie Geld investiert. Das Interesse ist aber natürlich, da die Cannabispflanze ein direkter Konkurrent zu viele Medikamente ist, nicht vorhanden.

Cannabis-Patientinnen und Patienten sind es aber sowieso leid darauf zu warten, bis ihnen jemand wissenschaftlich beweist, was sie schon lange wissen. Cannabis hilft!

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