Corona-Pandemie: Mit Nextstrain dem Virus auf der Spur
Richard Neher ist Biophysiker und forscht seit 2017 über epidemiologische Fragestellungen am Biozentrum der Universität Basel. Aber noch nie war seine Meinung so gefragt wie jetzt. Unter den Forschenden in der Schweiz ist er einer der führenden Experten für die derzeit herrschende Pandemie. In diesen Tagen wird er förmlich mit Anfragen von Medien und Behörden überschwemmt.
Auch Richard Nehers Kollegin Emma Hodcroft, die bei ihm als Postdoktorandin forscht, ist seit Ausbruch der Corona-Krise eine gefragte Ansprechpartnerin. Von Tag zu Tag folgen ihr immer mehr Menschen auf Twitter. «Vor dem Ausbruch des Coronavirus hatte ich vielleicht einige hundert Follower», sagt Emma Hodcroft. «Mittlerweile ist die Zahl auf über zwölftausend angewachsen. Es ist unglaublich,» Als eine von wenigen Frauen ist sie in die Runde der epidemiologischen Experten mit aufgenommen worden.
Open Science
Richard Neher ist ein Verfechter von Open Science und seine Arbeit zur Ausbreitung von Viren macht in Zeiten von Corona deutlich, wie wichtig es ist, dass Forschungsergebnisse öffentlich zugänglich sind. Darauf sind er und sein Team angewiesen, denn nur so können sie die Ausbreitung des Virus verfolgen.
Dass Richard Neher heute so gefragt ist, liegt auch daran, dass er und sein Kollege Trevor Bedford vom Fred-Hutchinson-Krebsforschungszentrum in Seattle schon vor Jahren eine innovative Idee hatten. Sie wollten live mitverfolgen können, wie sich Krankheitserreger ausbreiten und haben eigens dafür die Webapplikation Nextstrain entwickelt.
Seit 2015 ist die Webseite online und kam bereits für verschiedenste epidemiologische Fragestellungen zum Einsatz. Zum Durchbruch kam es jedoch erst mit der Corona-Krise. In den letzten Wochen wurde die Plattform förmlich überrannt, über 400.000 Mal wurde die Seite aufgerufen.
Nextstrain: Auf den Spuren von Viren
Mit Nextstrain lässt sich in Echtzeit verfolgen, wie sich ein Virus verändert, das heisst, welche Mutationen es während der Ausbreitung ansammelt. Die kleinsten Veränderungen geben Auskunft darüber, wo das Virus jeweils seinen Ursprung hatte und welchen Weg es genommen hat. Da Viren aufgrund ihrer hohen Fehlerquote beim Vervielfältigen des genetischen Materials ständig mutieren, hinterlassen sie eine gut nachzuverfolgende Spur.
Anhand dieser Mutationen lassen sich dann Verbreitungswege nachzeichnen. «Dies konnten wir beispielsweise für Italien ganz klar zeigen», sagt Richard Neher. «So wurde in Italien das Coronavirus auf zwei verschiedenen Wegen ins Land eingeschleppt.» Wenn man die Infektionswege kennt, lassen sich Epidemien besser kontrollieren und die Behörden können rechtzeitig zu Massnahmen greifen, die eine Virusausbreitung eindämmen, so wie es derzeit mit der Ausrufung des Ausnahmezustands für die Corona-Pandemie der Fall ist.
«Die in der Schweiz getroffenen Massnahmen lassen sich auch auf die Nextstrain-Analysen zurückführen», sagt Richard Neher. «Wenn ich mir die Ausbreitung des Virus anschaue, sind diese Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie völlig gerechtfertigt.
Es ist jetzt der Zeitpunkt, an dem wir handeln müssen, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und unser Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Dies würde sonst auf Kosten kranker und geschwächter Menschen gehen. Es ist ein Balanceakt zwischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen abzuwägen.»
Neues Tool: «COVID-19 Scenarios»
Derzeit arbeitet Richard Neher an einem neuen Tool, COVID-19 Scenarios, mit dem sich verschiedene Szenarien für den Coronavirus-Ausbruch analysieren lassen. Daten wie zum Beispiel die Zahl positiv getesteter Personen, die Anzahl an akuten Erkrankungen wie auch der Anteil an Genesungen oder an schweren oder tödlichen Verläufen fliessen in die Analysen ein. Sie geben Hinweise darauf, ob die von den Behörden getroffenen Massnahmen greifen, ob sie verschärft werden sollen oder gegebenenfalls wieder gelockert werden können.
Zudem können die Forschenden mit dem Tool simulieren, wie sich der neue Corona-Ausbruch entwickelt, falls die Übertragung des Coronavirus ähnlich der Grippe einer Saisonalität unterliegen sollte. Mit «COVID-19 Scenarios» haben Neher und sein Team ein Planungsinstrument für weltweite COVID-19 Ausbrüche entwickelt.
Erforschung der Grippe mit Nextstrain
Auch wenn der Corona-Ausbruch für Nextstrain erst der richtige Durchbruch war, kam die Webapplikation schon viel früher zum Einsatz. Mit Nextstrain lassen sich verschiedenste Virusausbrüche analysieren, sei es Corona, Grippe, Dengue, Zika oder Ebola.
Das Spektrum der Anwendungen ist unbeschränkt. Weltweit verwenden Epidemiologen, Virologen und Gesundheitsexperten dieses Tool, um live zu sehen, wie die Evolution von Krankheitserregern verläuft.