Graubünden untersuchte seine Psychiatriegeschichte
Die Bündner Regierung hat eine Studie über die Psychiatriegeschichte des Kantons in Auftrag gegeben.
Zu den Erkenntnissen gehört, dass Fürsorgerische Zwangsmassnahmen eine grosse Rolle spielten. Hingegen fanden Medikamentenversuche nur vereinzelt statt.
Bei den Diskussionen über Medikamentenversuche wie etwa im Kanton Thurgau oder über die administrativen Zwangsmassnahmen quer durch die Schweiz zeigte sich im Kanton Graubünden mit den Kliniken Waldhaus und Beverin eine Lücke: Eine psychiatriehistorische Untersuchung fehlte.
Die Bündner Regierung gab deshalb vor drei Jahren bei der Universität Basel eine Studie in Auftrag, die den Zeitraum von den Anfängen der Psychiatrie im 19. Jahrhundert bis in die jüngere Vergangenheit abdeckt. Im Juli 2020 erhielt der Kanton das 450-seitige Ergebnis, am Montag wurde über die wichtigsten Erkenntnisse daraus informiert.
Unter anderem zeigte es sich, dass die Fürsorgerischen Zwangsmassnahmen einen prägenden Einfluss auf die Bündner Psychiatrie hatten: «Bis 1980 erfolgten ein Drittel bis die Hälfte der psychiatrischen Eintritte aufgrund von Zwangseinweisungen», heisst es in der Auswertung der Studie. Sie betrafen oft Personen mit Alkohol- oder Drogensucht. Später wurden die Einweisungen auch mit Selbstgefährdung begründet.
Durch die Anstalt Realta habe Graubünden anders als andere Kantone über eine institutionalisierte und damit besonders enge Beziehung zwischen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und der Psychiatrie verfügt.
Die Bündner Psychiatrie war im 20. Jahrhundert eines von mehreren Zentren für erbbiologische Forschung (Eugenik). Ausfluss davon waren die Stammbaumforschung oder der Aufbau eines Sippenarchivs. Es ging dabei allerdings mehr um die Theorie, als um die konkrete Umsetzung in Form von medizinischen Behandlungen.
Das zeigt sich auch daran, dass im Kanton Graubünden eugenisch begründete medizinische Eingriffe wie Sterilisationen im Zusammenhang mit Schwangerschaftsunterbrüchen «nicht häufiger vorkamen, als in vergleichbaren Einrichtungen anderer Kantone». Die Sterilisationen seien «vielfach auch mit sozialen und ökonomischen Anliegen» begründet worden.
In der Klinik Beverin sind in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts «zahlreiche als Sexualstraftäter verurteilte Männer als Präventionsmassnahme kastriert» worden. Bis um 1970 geschah dies mit Operationen. Weit über 100 Insassen der Anstalt Realta seien damals in der Klinik kastriert worden. Die meisten dieser Eingriffe erfolgten offenbar nach einer Verständigung mit den Betroffenen. Erreicht wurde damit eine Milderung des Strafmasses.
Medikamentenversuche fanden nur vereinzelt an Bündner Kliniken statt. Allerdings deute vieles darauf hin, dass bis in die 1960er Jahre dafür die Einwilligung von Patientinnen und Patienten «nicht systematisch eingeholt» wurde, heisst es in der Mitteilung.
In den 1960er-Jahren setzten dann wie überall nachhaltige Reformen in der Bündner Psychiatrie ein. Unter anderem wurde das ambulante Angebot stark ausgebaut. Die Kliniken entwickelten sich dadurch mehr und mehr zu «Orten akuter Krisenintervention».
Die Studie biete zwar eine faktenbasierte Grundlage für eine Auseinandersetzung mit der Psychiatriegeschichte, heisst es in der Wertung. Es würden damit aber nicht alle Fragen abschliessend beantwortet. So fehle beispielsweise «eine umfassende quantitative Erhebung zur Sterilisationpraxis». Dies könnte ein Thema für weiterführende Forschungen bilden.