Wie Stalins Tochter in der Schweiz für Aufregung sorgte
Der Schweizer Dokumentarfilmer Gabriel Tejedor («Kombinat») hat eine Geschichte ausgegraben, die der breiten Öffentlichkeit unbekannt ist: über Stalins Tochter.
Eine Frau geht irgendwo eine Treppe hinunter. Sie lächelt. Ein Ausschnitt aus einem Amateurfilm, der alltäglicher nicht sein könnte. Doch die Aufnahme, die vor 60 Jahren gemacht wurde, hat es in sich: Die Frau heisst Swentlana, ist die Tochter von Josef Stalin und lebt in der Schweiz.
Der Schweizer Dokumentarfilmer Gabriel Tejedor («Kombinat») hat eine Geschichte ausgegraben, die der breiten Öffentlichkeit unbekannt ist. Ende der 1960er Jahre hatte sich Swentlana Stalin, die Tochter des sowjetischen Diktators, bei Nonnen in der Westschweiz versteckt – auf Betreiben des US-amerikanischen Präsidenten Lyndon Johnson. Ihre Flucht aus der damaligen UdSSR hatte im Westen wie im Osten für diplomatischen Wirbel gesorgt. In seinem Film «Naître Svetlana Staline» lässt Tejedor eine Handvoll Historikerinnen und Historiker sprechen, darunter Magali Delaloye von der Universität Freiburg.
Delaloye wurde bei den Recherchen für ihre Doktorarbeit mit der Figur der Swetlana Iossifowna Allilujewa konfrontiert, wie sie im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA sagt. Sie analysierte Josef Stalin und sein Umfeld aus einer anthropologischen und geschlechtsspezifischen Perspektive. «Ich verliess die politische Analyse und rückte nicht nur die stalinistischen Führer, sondern auch ihre Angehörigen, also ihre Ehefrauen und Kinder, ins Rampenlicht», sagt sie.
Der Film, der chronologisch aufgebaut ist, erzählt vom Kind, das wohlbehütet aufwächst, von seinem Vater geliebt wird und mit ihm ein Spiel spielt. Er nennt sie «kleine Chefin», denn sie erteilt ihm in Briefen Anweisungen – zum Beispiel, eine Schifffahrt mit ihm zu machen. Er gehorcht.
Briefe waren es denn auch, die am Anfang der Arbeit der Historikerin standen. Briefe Stalins an seine Kinder, an die Haushälterin, an die Lehrer. Was ihr als Erstes aufgefallen ist: «Der Unterschied zwischen Swetlana und Wassili. Er ist im Gegensatz zu seiner Schwester kein besonders guter Schüler. Stalin überlässt seinen Sohn der Fürsorge seines Chauffeurs und seines Leibwächters.» Zu seinen Söhnen sei er hart gewesen, Swetlana habe er alles durchgehen lassen.
Schweiz gerät mitten in diplomatisches Gezerre
Nach und nach wendet sich Stalin auch gegen die eigene Familie, lässt Verwandte erschiessen. Als seine Tochter als 16-Jährige mit einem 20 Jahre älteren Mann zusammenkommt, gibt es erstmals Ohrfeigen – und der Freund wird in den Gulag geschickt. Die Tochter erfährt, wozu ihr Vater fähig ist.
1953 stirbt Josef Stalin und wird vom «Grössten Mann der UdSSR» zum «Verantwortlichen der dunkelsten Zeiten». Die Tochter nimmt den Namen der Mutter an, wendet sich von der kommunistischen Partei ab, wird orthodox und kommt Mitte der 1960er-Jahre über Umwege schliesslich in die Schweiz, in «das kleine, neutrale Land», wie es im Film genannt wird.
Die Meldung verbreitet sich in Windeseile: Stalins Tochter ist in der Schweiz. Ein Anti-Kommunist im Aussenministerium setzt sich für sie ein. Gleichzeitig hat die Schweiz Angst vor möglichen Reaktionen der UdSSR und auch davor, dass die Tochter eine Spionin sein könnte.
Tatsächlich gerät die Schweiz in der Folge mitten in diplomatisches Gezerre, das der Film verständlich und kurzweilig aufarbeitet. «Diese Geschichte ist auch heute noch interessant», meint die Historikerin, «weil sie zeigt, wie schwierig es für eine Frau ist, aus dem auszubrechen, das von ihr erwartet wird». Swetlana Iossifowna Allilujewa sei eine Rebellin gewesen, die sich emanzipieren wollte, die aber in dem Bild der «Tochter von ...» gefangen geblieben sei. «Ausserdem», so Delaloye, «ist sie ein interessanter Fall, um der breiten Öffentlichkeit die Komplexität des Kalten Krieges zu zeigen und von einer Schwarz-Weiss-Darstellung wegzukommen.»
Dichter Dokumentrafilm «Naître Sventlana Staline»
Bei der Frage, wie sehr das Geschlecht in dieser Geschichte eine Rolle gespielt habe, hält sich die Wissenschaftlerin zurück: «Ich betreibe nicht gerne Geschichtsfiktion.» Trotzdem sagt sie: «Sie hätte als Mann sicherlich nicht die gleiche Erziehung genossen, ihr Vater hätte das manchmal autoritäre Verhalten nie akzeptiert und sie als Junge härter behandelt.»
Der Fall zeige exemplarisch die Stellung und die Handlungen der Schweiz während des Kalten Krieges, so Delaloye. «Auf der einen Seite stehen zögerliche Behörden, die niemanden verärgern und die Illusion der Neutralität aufrechterhalten wollen. Auf der anderen Seite sehen wir die Rolle von Bundesbeamten, die eingefleischte Antikommunisten gewesen sind und die Stalins Tochter unterstützen wollten, ohne zu hinterfragen, ob sie wirklich ihre kommunistischen Ideale aufgegeben hat.»
Diese Vielschichtigkeit zeigt der dichte Dokumentrafilm «Naître Sventlana Staline» eindrücklich, auch mithilfe effizient animierter Szenen. Stalins Tochter stirbt übrigens 2011 in verarmt und vereinsamt in einem Sozialheim in den USA.*
*Dieser Artikel von Raphael Amstutz, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.