«Der Morgenstern»: Knausgård, das Leben und der Tod
Was hat es mit dem riesigen Stern auf sich, der da am Himmel aufragt? Neun Protagonisten sind ratlos. Karl Ove Knausgård treibt sie in seinem neuen Roman in eine Welt, in der nichts ist, wie es scheint.
Das Wichtigste in Kürze
- Karl Ove Knausgård hat sich in seinen grossen Werken vor allem mit sich selbst beschäftigt. In sechs autobiografischen Romanen hat er Einblicke in nahezu alles geliefert, was er ist, was er denkt und was ihn ausmacht.
Diese Offenheit hat den Norweger weltbekannt gemacht. Nun hat sich Knausgård auf fast 900 Seiten Länge unter anderem an dem wohl schwierigsten und lebenswichtigsten Thema von allen abgearbeitet: dem Tod. Er spricht diesmal nicht selbst, sondern lässt neun Protagonisten für sich denken und grübeln. Herausgekommen sind viele Fragen, wenige Antworten und ein beeindruckender Roman zum Nachdenken.
Das ist was am Himmel
«Der Morgenstern» heisst das gute Stück, das der Luchterhand Verlag gerade in den deutschen Handel gebracht hat. Es spielt während einer sommerlichen Hitzewelle rund um das norwegische Bergen, das direkt aus den Träumen deutscher Skandinavien-Urlauber entsprungen zu sein scheint. Ungeachtet der nordischen Naturidylle macht sich jedoch Unbehagen breit: Tiere verhalten sich seltsam, die Ich-Erzählerinnen und -Erzähler plagen sich mit mittel- bis sehr grossen Alltagsproblemen herum. Am metaphorischen Horizont braut sich derweil etwas zusammen, das alles andere überstrahlt. «Da ist was am Himmel. Hast du es gesehen?», fragt die Figur Emil. «Ein gigantischer Stern oder so.»
Will Knausgård auf die Klimakrise hinaus, so wie jüngst der Film «Don't Look Up» mit Leonardo DiCaprio, in dem ein Komet sinnbildhaft für ebendiese Krise steht? Oder auf etwas Spirituelles, das sich nicht greifen lässt - schliesslich steht der titelgebende Morgenstern in biblischer Hinsicht für Gottes Sohn, für Jesus Christus? Warum lässt sich das Himmelsphänomen trotz allen menschlichen Wissens nicht erklären?
Genau diese Gedankengänge entlarvt Knausgård mit Bravour. Er beschreibt die Wirklichkeit als eine komplizierte Grösse, moniert unsere neuzeitliche Angewohnheit, Dinge nicht zu glauben, die wir nicht erklären können. «Was bedeutet es zu wissen? Was bedeutet es zu glauben?», lässt er einen weiteren Protagonisten namens Egil fragen. «Was machen wir mit dem, was wir zwar ahnen, aber nicht wissen können? Wir verschliessen die Augen davor.»
Es geht um Rätsel und Halluzinationen
Knausgård wäre nicht Knausgård, wenn man in seinen Zeilen nicht ihn selbst, seine eigenen Erfahrungen, Lebensumstände und Gedanken herauslesen würde. Das autobiografische Schreiben hat den 53-Jährigen schliesslich weltbekannt gemacht, nicht umsonst wird er als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart bezeichnet.
Während Knausgård in den autobiografischen Bänden «Sterben», «Lieben», «Spielen», «Leben», «Träumen» und zuletzt «Kämpfen» immer wieder sich selbst und die Welt zu erklären versuchte, geht es im «Morgenstern» vielmehr um das Vage. Um Halluzinationen, Rätsel, Ungenauigkeiten und die unterschiedliche Wahrnehmung der Realität. Es ist eine Ode an das Unverständliche.
Tote erwachen zum Leben, Lebende sind zumindest halbtot. Knausgård fragt, wo die Grenze zwischen Wirklichkeit und Einbildung verläuft, zwischen Bewusstsein und Traum, zwischen Leben und Tod, Himmel und Hölle. Seine Gedanken kreisen und fliegen, von Adam und Eva über Darwin, Löwenmenschen und die Ilias bis nach Tübingen. Freiheit, Gott und die Moral, all die grossen Fragen der Menschheit spielen eine Rolle, während die Probleme der Protagonisten immer schwerwiegender und düsterer werden.
Endet all das in der Katastrophe? Ansichtssache. Zwischenzeitlich weiss man nicht so recht, ob sich dieses Buch eher in Richtung des Horrors von Stephen King oder der Philosophie von Jostein Gaarder entwickelt. Am Ende ist es ein echter Knausgård: Lang, tiefgründig, detailverliebt. Und zugleich abstrakt. Er überführt den Leser dabei, alles mit Rationalität erklären zu wollen. Genauso geht es den Protagonisten selbst, die lauter Theorien und Vorschläge aufstellen - ohne im Grunde zu wissen, was eigentlich gerade passiert.