Von Streaming bis «Spawn»: Pop im digitalen Wandel
Vom Audiostreaming über den gläsernen Musikhörer bis zur Künstlichen Intelligenz: Im Pop hat die Digitalisierung schon sehr weitreichenden Einfluss. Und auch der ökologische Fussabdruck beim Musikkonsum ist heute ein anderer als noch vor wenigen Jahren.
Das Wichtigste in Kürze
- Das waren noch Zeiten, als ein Lied wie «Hotel California» (1976) von den Eagles mit seinem gut 100-sekündigen Gitarren-Intro ein Nummer-eins-Hit werden konnte.
Heute müssen Musiker viel rasanter mit der Refrain-Tür ins Haus fallen, um auf den Playlisten der Streamingdienste schnelle Aufmerksamkeit zu erzielen. Ansonsten gibt's kein Geld.
Popmusik - das war schon immer ein eigener Kosmos im stetigen Wandel. Welchen Einfluss darauf hat nun aber die fortschreitende Digitalisierung? Nicht nur wie wir Songs hören - auch die Art, sie zu produzieren, ändert sich.
Die Musikindustrie scheint dem Tod nochmal von der Schippe gesprungen zu sein - dank des bezahlten Audiostreamings, das 2018 in Deutschland und auch weltweit bereits rund 47 Prozent Marktanteil am Musikkonsum hatte. Streamingdienste wie Spotify, Apple Music und Deezer liefern mit wenigen Klicks eine unvorstellbare Masse an Musik.
Der Besitz von Tonträgern - das berühmte «haptische Element» - oder ein Verfügungsrecht über Downloads ist für fast die Hälfte der Kunden in Deutschland nicht mehr wichtig, ergab kürzlich eine Umfrage der Uni Hamburg. Obwohl Formate wie Vinyl oder sogar Musikkassette eine kleine Renaissance erleben, sind Anbieter digitaler Dienste heute marktbeherrschend. Und das macht manchen auch Sorge.
Der Bundesverband Musikindustrie (BVMI) sieht Plattformen wie Spotify indes als Partner - wenn auch «besondere Partner, weil sie viel tiefer als früher üblich in den Vertrieb von Musik einbezogen sind. Das ist dadurch natürlich manchmal ein durchaus spannungsvolleres Verhältnis», sagt Verbandschef Florian Drücke im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.
Im vergangenen Jahr betrug der Gesamtumsatz der globalen Musikindustrie 19,1 Milliarden US-Dollar (gut 17 Milliarden Euro). Der Marktanteil von CD und Vinyl liegt momentan nur noch bei 25 Prozent. Die Digital Media Association (DiMA) kommt daher in ihrem Bericht 2018 zu dem Schluss: «Streaming hat die Musikindustrie gerettet.» Laut DiMA-Report sagen mehr als die Hälfte der Verbraucher inzwischen: Playlisten haben das Album in ihren Hörgewohnheiten ersetzt. Die Veränderungen sind also nicht nur wirtschaftliche.
Die Fülle an Angeboten und der einfache Zugriff führen - Experten meinen: erfreulicherweise - auch zu einer globaleren Abbildung von Musik. «Eine Internationalisierung erleben wir schon seit längerem etwa im Hip-Hop oder noch viel stärker in der elektronischen Musik. Deren Fans finden im Netz nun Beispiele aus ganz anderen Weltregionen vor», sagt Prof. Udo Dahmen, künstlerischer Direktor der renommierten Popakademie Baden-Württemberg. «Früher nur lokale Ausprägungen wie westafrikanische und Balkan-Musik, koreanischer oder Japan-Pop und Latin-Traditionsstile stossen nun auf viel mehr Interesse.»
Wirtschaftliche Faktoren spielen dennoch eine grosse Rolle, wenn es um die Form der heute konsumierten Popmusik geht. Durch Datenanalysen lässt sich genau sehen, was beim Hörer funktioniert und was nicht - auf die Sekunde genau und abgeglichen damit, was im jeweiligen Stück gerade passiert. Dementsprechend kann Musik auf das Konsumverhalten des Hörers hinproduziert werden.
«Das ist schon beim Schreiben eines Songs ein relevantes Thema», sagt Musikproduzent und Diplom-Tonmeister Tim Tautorat aus Berlin, der bereits mit Pharrell Williams, Herbert Grönemeyer, Faber oder Annenmaykantereit gearbeitet hat, im dpa-Interview. «Es gibt da einmal den gesamten Block, der früher 'Radio-Pop' war. Da wurde genau das gemacht, was heute für Playlisten gemacht wird. Musik wurde dafür geschrieben und produziert, dass sie maximal gut ins Radio passt.»
Besonders für weite Teile der sehr erfolgreichen deutschen Rap-Musik sei diese Vorgehensweise momentan beispielhaft. «Das ist Musik, die wird auf Playlisten zugeschrieben. In Tempo, in Songlänge, in der Länge des Intros. Dass man zum Beispiel sagt: Innerhalb der ersten 20 Sekunden muss das und das passiert sein. Aber auch in der Tonart oder bei der Auswahl des Instrumentariums.»
Es gilt die Regel: Ein Song muss sofort ins Ohr gehen, damit er nicht weggeclickt, sondern länger gestreamt wird. So braucht es 31 Sekunden Verweildauer bei einem Track auf Spotify, damit überhaupt Geld an den Künstler fliesst - es sind nur Zehntel-Cent-Beträge. «In der Tat müssen sich Mainstream-Tracks dann entsprechend entwickeln», bestätigt Prof. Dahmen im dpa-Interview. «Das sagen wir unseren Leuten an der Akademie auch und vermitteln ihnen das Handwerkszeug.»
Dass Songs im Streaming-Zeitalter nicht nur direkter, sondern insgesamt auch kürzer werden, hat Dan Kopf für das Magazin «Quartz» analysiert. Der US-Datenjournalist führt dies auch auf die Ökonomie der Streaming-Anbieter zurück. So untersuchte er die Songs erfolgreicher Hip-Hop-Künstler wie Drake oder Kendrick Lamar - und kam zu dem Schluss, dass diese Veränderung sogar innerhalb deren eigener Diskographie festzustellen sei.
Was ist nun vom Verdacht zu halten, dass Streaminganbieter teilweise «Fake-Künstler» erschaffen und auf Playlisten zugeschnittene Songs produzieren? Angeblich als Lückenfüller, um später weniger Tantiemen auszahlen zu müssen. Produzent Tautorat meint: «Das machen die auch. Die Songs werden teilweise sogar automatisiert erstellt. Aber das findet noch nicht im Pop-Kontext statt, sondern eher auf Ambient- und Meditations-Playlisten.»
Michael Krause, als Managing Director bei Spotify für Zentraleuropa zuständig, sagte kürzlich dem Magazin «Musikexpress», die Produktion eigener Musik seines Streamingdienstes sei «nicht geplant». Er befürwortet jedoch Playlisten mit «funktionaler Musik kuratiert von unserer Redaktion» - etwa zum Einschlafen. Man darf gespannt sein, wie offensiv Spotify & Co. auf die Hörgewohnheiten ihrer Kunden in Zukunft einwirken werden.
Doch die Option, mit automatisierten Abläufen oder Künstlicher Intelligenz (KI) Musik zu produzieren, kann auch zu sehr spannenden neuen Sound-Kreationen führen. So hat die in Berlin lebende US-Künstlerin Holly Herndon auf dem neuen Album «Proto» (2019) ihr KI-«Baby» namens «Spawn» eingesetzt. Zusammen mit Ehemann Mathew Dryhurst hatte Herndon das Programm entwickelt. «'Spawn' wurde mit meiner Stimme trainiert,» sagte sie im Deutschlandfunk. Die Musikerin nutzte «Spawn» nicht einfach als Instrument, um ihrer elektronischen Musik ein Sound-Element hinzuzufügen. In Stücken wie «Godmother» taucht die KI-Stimme als eigenständiges Ensemble-Mitglied auf.
Insgesamt erscheint der digitale Wandel für Musikindustrie wie auch viele Pop-Konsumenten also positiv. Der Einbruch bei CD- und Download-Verkäufen wurde aufgefangen durch besser funktionierende Bezahlsysteme. Davon können allerdings vor allem junge, noch wenig bekannte Musiker kaum leben. «In der Tat sind die Einkünfte über Streaming marginal im Vergleich zu früher mit physischen Tonträgern», sagt Prof. Dahmen. «Die Modelle für Künstler, Geld zu verdienen, haben sich stark verändert, etwa mit mehr Live-Auftritten.»
Katzenjammer gebe es dennoch nur «bei der Generation, die in Vor-Streaming-Zeiten gutes Geld verdient hat». Jüngere Musiker arrangierten sich - beispielsweise mit der Gründung einer eigenen Plattenfirma wie die an der Popakademie in Mannheim ausgebildete, jetzt sehr erfolgreiche Popsängerin Alice Merton, betont Dahmen.
Wird der Pop-Genuss per Streaming nun auch umweltfreundlicher - angesichts der früher angehäuften Berge von CDs mit leicht brechenden Hüllen aus Plastik? Da kommt Jubel wohl zu früh. Eine aktuelle Studie der Universitäten Glasgow und Oslo besagt, dass Musikkonsum heute einen grösseren ökologischen Fussabdruck hinterlasse als je zuvor. Zur Blütezeit der CD im Jahr 2000 habe die Musikindustrie in den USA viel weniger Kilogramm CO2-Äquivalente an Plastik erzeugt als im Jahr 2016 durch die permanente Datenspeicherung und -übertragung.