Berset klaut/rettet Regenschirm: Was will uns dieses Video sagen?
Auch in der Politik: Wahrnehmung ist individuell selektiv. Die Feiern für das Parlamentspräsidium liefert ein harmloses Beispiel. Oder ist alles ganz anders?
Das Wichtigste in Kürze
- Die Basler feiern die neue Ständeratspräsidentin und den neuen Nationalratspräsidenten.
- Nationalratspräsident Eric Nussbaumer scherte dabei kurz aus dem Umzug aus.
- Bundespräsident Alain Berset half ihm – oder was genau sieht man denn da im Video?
Der neue Nationalratspräsident und damit höchster Schweizer, SP-Nationalrat Eric Nussbaumer, sorgt mit einer Eskapade für Verwirrung, Hektik und Schmunzeln. Das im Rahmen des feierlichen Empfangs im heimatlichen Liestal BL entstandene Video zeigt aber auch: Es braucht immer eine ganzheitliche Betrachtung. Wer nur – bewusst oder unbewusst – einen Ausschnitt sieht oder sehen will, wird an Wahrheit, Relevanz oder korrekter Interpretation vorbeischiessen.
Heee Siiiee!
«Siiiiee haben gesagt», schallt es bisweilen in Parlamentsdebatten, Wahlkampfveranstaltungen oder in der «SRF Arena». Worauf sich der oder die angesprochene «Sie» gegen Missverständnisse wehren muss.
Ja, man hat gesagt, die Steuern für Verheiratete würden sinken, aber nicht diese Steuern, sondern die anderen, was indirekt auch diese Steuern… warten Sie, ich mache ihnen eine Zeichnung. Jaja, nicht in Regenbogen-Farben.
Ja, man hat gesagt, dass es immer wärmer werde und trotzdem schneit es im November, «dabei ist noch nicht mal Winter». Aber es ging um den Durchschnitt. Nein, nicht den Durchschnitt seit der letzten Eiszeit, sondern den seit der postindustriellen Gesellschaft. Nein, das ist nicht die Schuld von Ex-SP-Präsident Christian Levrat, auch wenn er jetzt Verwaltungsratspräsident der Post ist.
Nein, man hat nicht gesagt, Alain Berset sei ein Diktator. Man hat gesagt, er sei ein Diktator. Also, ja, er ist ein Diktator. Aber nicht so einer, hören Sie doch zu und nein, ich mache ihnen keine Zeichnung.
Berset klaut Schirm, höchster Schweizer steht im Regen
Das fragliche Video zeigt die Ankunft des Nationalratspräsidenten, zusammen mit Ständeratspräsidentin Eva Herzog und den Ehrengästen, bei der Stadtkirche von Liestal. Ein fürs Protokollarische Zuständiger leitet gerade alles in die Wege, damit man «noch eine Foti machen» kann. Da zeigt Eric Nussbaumer, was er drauf hat: Rechts antäuschen, links mit plötzlicher Tempo-Änderung im Rücken des begleitenden Ratsweibels davonspurten.
Als langjähriger Captain des FC Nationalrat weiss er halt, wie das geht. Oder er weiss es als langjähriger SP-Nationalrat. Wer weiss. Doch dann geht die Hektik erst richtig los.
Der Weibel, der seine pluvialen Defensiv-Aufgaben vorübergehend vernachlässigt hat, muss einen Zwischenspurt einlegen. «Schnell Foti», hört man aus dem Hintergrund, denn wie beim Tschutten wird auch hier scharf geschossen. Ziel des Nussbaumerschen Sololaufs ist es, ein scharfes Bild mit der Stadtmusik zu schiessen. Die Saxofonistin rennt los, der Foti-Mensch rennt entgegen, die Saxofonistin rennt zurück.
Nur verdeckt jetzt der Abwehrschirm den Blick auf das Ziel. Der Mangel an Anspielstationen wird sogleich überkompensiert: Zwei Personen rennen von links nach rechts. Bundespräsident Alain Berset hat die grösste Grundbeschleunigung und behändigt noch vor dem Parlamentsmitarbeiter den Schirm. Zwei Personen rennen von rechts nach links.
Foto geschossen, lockeres Auslaufen, nach dem Spiel ist vor dem Spiel, denn nun geht es weiter im Trott Richtung Kirche. Für aussenstehende Beobachter ist klar: Der Bundespräsident hat den Nationalratspräsidenten im Regen stehengelassen.
Interpretationen sind Glücksache
So könnte man jedenfalls die Episode auch interpretieren, wenn man den Kontext ausser Acht lässt oder nur einen Ausschnitt des Videos betrachtet. An diesem harmlosen Beispiel lässt sich zeigen, wie in der Politik zwar nicht gelogen, aber manchmal nicht die ganze Wahrheit gesagt wird. Oder der Fokus – je nach eigenen Absichten – komplett anders gelegt werden kann.
Haben Sie gesehen? Auch Bundesrat Albert Rösti macht noch eine flapsige Bemerkung in Richtung Musiker. Aha, der will sich wohl in Szene setzen! Oder will Alain Berset auf Abschiedstour dem Parteikollegen Nussbaumer das Rampenlicht streitig machen? Für den Filmenden, SRF-Redaktor Matieu Klee, ist die volksschauspielerische Darbietung dagegen «Typisch Schweiz: Wenn der neue Nationalratspräsident spontan vom Protokoll abweicht und auch der Bundesrat mitspielt».
Macht Ständeratspräsidentin Eva Herzog (SP/BS) eine sauertöpfische Miene zum bösen Spiel oder hat sie bei diesem Sauwetter einfach nur kalt? OMG, die Jacqueline Badran (SP/ZH) hat einen fetten Pelzmantel an, wie die «Gen Z» sagen würde, oder mir wenigstens glaubhaft versichert, das ganz bestimmt zu tun, «safe».
Wollen eigentlich die Herren unter den Ehrengästen den harten Kerl markieren? Oder warum haben Rösti, Berset und Regierungspräsident Beat Jans (SP/BS) keinen zweibeinigen Schirmständer dabei? Regierungspräsidentin Monica Gschwind (FDP/BL) hat schliesslich auch ihren schneeweissen Knirps gezückt.
Apropos Gschwind: Das ging aber sehr schnell. Eine rekordverdächtige Amtshandlung in nahezu perfekter Zusammenarbeit von Legislative und Exekutive. Aha! Die können also schon sehr speditiv sein, wenn sie nur wollen!
Es könnte schlimmer sein
Das könnte man alles vermuten oder unterstellen, je nach selektiver Wahrnehmung oder wenn man nur einen Teil des Videos sieht. Aber halt: Auf anderen Bildern ist zu sehen, dass auch Rösti und Jans unter der Haube mitmarschieren und weisse Knirpse zur Baselländler Standardausrüstung gehören.
Oder ist alles ganz anders und auch wir haben auch nicht das ganze Video gesehen?!
Das wäre ja furchtbar, denn ein bisschen pixelig ist die Aufnahme ja auch. Ich befürchte, gleich kommen Reklamationen von anonymer Seite, «das ist imfall gar kein Pelzmantel, das ist Leder». Was ja nur eins heissen kann: OMG, die Jacqueline Badran hat ihren Pelzmantel rasiert! Aber sowas sagt selbst die «Gen Z» nicht – das wäre ein Foul.