Darum ist die Verschiebung im Tessiner Ständerat keine Polarisierung

Christoph Krummenacher
Christoph Krummenacher

Bern,

Die Polparteien SP und SVP raubten FDP und CVP ihre Tessiner Ständeratssitze. Bei den Wahlen gewann der linke Pol. Doch die Schweiz bleibt wenig polarisiert.

polarisierung Ständerat
Nimmt die Polarisierung in der Schweiz zu? (Symbolbild) - Keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Die beiden Tessiner Ständeratssitze verschoben sich zu den Polparteien SP und SVP.
  • Politologen glauben jedoch nicht, dass sich daraus eine Tendenz ableiten lässt.
  • Die Schweizer sind wenig polarisiert – doch die grüne Welle bringt neue Dynamiken.

Erdbeben vergangenes Wochenende im Tessin: CVP-Urgestein Filippo Lombardi fliegt aus dem Ständerat. Und auch die FDP verliert ihren Sitz im Stöckli – nach 126 Jahren. Zum Handkuss kommen die Polparteien SP und SVP.

Auf den ersten Blick sieht dieser Umsturz ganz nach Polarisierung aus. Die Wählerstimmen wanderten zu den Kandidaten der Pole, bestätigt Klaus Armingeon. Deshalb von einem langfristigen Trend sprechen, will der Politikwissenschaftler der Uni Bern allerdings nicht. «Es gehört zu Demokratien, dass es von Wahl zu Wahl Stimmenverschiebungen zwischen Parteien gibt.»

filippo lombardi Ständerat
Filippo Lombardi verpasste im zweiten Wahlgang die Wiederwahl als Tessiner Ständerat. «Die Polarisierung hat zu diesem Ergebnis geführt», sagte er nach seiner Abwahl. - Keystone

Marc Bühlmann, ebenfalls Politologe und Direktor von Année Politique Suisse, glaubt, dass die Polarisierung eine geringe Rolle gespielt hat. «Ich denke, dass im Tessin verschiedene Gründe für den überraschenden Wahlausgang gesorgt haben.

Darunter sicherlich auch der Umstand, dass Filippo Lombardi bereits 20 Jahre im Ständerat sass oder dass die FDP und die CVP einen etwas seltsamen Schulterschluss präsentierten, der vielleicht bei den Wählern nicht gut ankam.» Zusätzlich könne auch der Frauenbonus für Marina Carobbio gespielt haben, welche Lombardi um 45 Stimmen überholte.

uni bern politik
Die beiden Politikwissenschaftler Professor Marc Bühlmann (l.) und Professor Klaus Armingeon von der Uni Bern. - zVg

Zwar würden in der Regel eher Personen in den Ständerat gewählt, die nicht polarisieren, so Bühlmann. «Ständeratswahlen sind aber immer auch Personenwahlen und die Partei kann hier auch mal in den Hintergrund treten.»

Die Schweiz ist stark polarisiert, aber nur zwischen den Parteien

Die Schweiz stellt im europäischen Vergleich einen Sonderfall dar, wie eine Untersuchung über die Polarisierung von Politologe Armingeon zeigt. Demnach liegen zwar die Positionen der Parteien weit auseinander. Die Polarisierung in der Bevölkerung ist hingegen klein, die Schweizer sind gar nicht so uneins.

«Die Parteien beziehen eher extreme Positionen, um gegenüber den Wählern klarere Profile zu haben», erklärt Armingeon.

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Nur in Norwegen, Frankreich, Dänemark und Österreich sind die Wähler der Parteien noch stärker polarisiert als in der Schweiz. Hingegen unterscheidet sich die Wählerschaft als gesamtes im Vergleich zum Ausland schwach. - Armingeon/Engler 2015

«Sie ‹sortieren› sich so aus der Gesamtwählerschaft jene Wähler heraus, die eher zu ihren jeweiligen Parteipositionen neigen.» Die pointierten Parteiprogramme der Schweizer Parteien sorgen also dafür, dass die Differenzen zwischen den Wählenden besser sichtbar sind. Gerade die SVP kann ihr Wählerpotenzial gemäss Studie trotz moderater Polarisierung sehr gut mobilisieren.

Wie wirkt sich der grüne Tsunami auf die Polarisierung aus?

Nach dem grünen Tsunami bei den Nationalratswahlen sei es durchaus möglich, dass die Konfliktlinie zwischen Ökologie und freier Wirtschaft wählermässig weiter gestärkt werde, so Armingeon. Doch: «Generell wäre ich vorsichtig, den Begriff der Polarisierung in Bezug auf das Ergebnis der Wahl vom Oktober anzuwenden. Schliesslich ist der SVP-Pol deutlich geschwächt worden, während der grün-linke Pol – nach Abzug der SP-Verluste – gestärkt wurde.» Armingeon spricht daher eher von «Stimmenverschiebung».

Auch Marc Bühlmann ordnet das Wahlergebnis so und will zuerst abwarten, welche Verbündeten die Grünen künftig finden werden. «Meine These ist, dass unterschiedliche etwa gleich starke Kräfte zu einer neuen Dynamik führen können. Es sind für unterschiedliche Themen ganz unterschiedliche und neue Koalitionen möglich, die teilweise wahrscheinlich wie klassische «Polarisierung» aussehen, in anderen Bereichen aber eben neue Formen der Kompromissbildung ermöglichen.»

Diese «neue» Polarisierung könne also auch belebend wirken. Auch wenn mit Polarisierung immer der negative Aspekt der Blockade mitschwinge.

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