Mit Paul Rechsteiner tritt eine zentrale Figur der Linken ab
Eine grosse Politkarriere neigt sich dem Ende zu: Der St. Galler Ständerat Paul Rechsteiner verabschiedet sich Ende Jahr nach 36 Jahren aus der Bundespolitik. Mit dem früheren Gewerkschaftspräsidenten tritt eine zentrale Figur der Linken ab.
Das Wichtigste in Kürze
- Paul Rechsteiner verkörperte einen neuen Typ von Gewerkschafter.
Den Zwängen des etablierten Machtgefüges widersetzte er sich lange nicht nur durch Verweigerung von dunklem Anzug und Krawatte, sondern auch mit messerscharfem Intellekt.
Rechsteiner kämpfte mit Fakten und offenem Visier: «Wir müssen uns unsere eigene kämpferische Geschichte wieder aneignen», sagte er 1998 mit Blick auf den 80. Jahrestag des Generalstreiks von 1918. Gemeinsam seien auch die vermeintlich Machtlosen eine Macht.
1998 war ein Schlüsseljahr. Paul Rechsteiner wurde Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB), den er während 20 Jahren entscheidend prägte. Die Verteidigung der Interessen der Lohnabhängigen und Rentnerinnen und Rentner lag ihm immer besonders am Herzen. «Es gibt immer noch viele Leute, die angewiesen sind auf einen funktionierenden Sozialstaat», sagte er in einem TV-Interview zum seinem 70. Geburtstag.
Die Wahl zum SGB-Präsidenten führte zu einer Schwerpunktverlagerung der parlamentarischen Arbeit. Realisiert wurden unter anderem seine Anliegen zur Insolvenzdeckung in der beruflichen Vorsorge und für die Ratifikation der Uno-Menschenrechtspakete. An zahlreichen Volksbegehren war er verantwortlich beteiligt, so unter anderem bei den Mieterschutzinitiativen, «Schweiz ohne Schnüffelpolizei» und sozialpolitischen Initiativen.
Zur Gewerkschaftspolitik kam er durch seinen Beruf. Der St. Galler, der in Fribourg in nur vier Jahren sein Jus-Studium absolvierte, arbeitet seit 1980 als selbständiger Rechtsanwalt. Rechsteiner war Vertrauensanwalt verschiedener Gewerkschaften und führte Pilotprozesse im Arbeitsrecht und in Lohngleichheitsfragen. Noch immer vertritt der 70-Jährige vor Gericht als Strafverteidiger sozial Schwächere.
In Beruf und Politik deckte Paul Rechsteiner immer wieder System-Fehler auf. Erfolgreich vertrat er etwa die Belegschaft im Fall der ausgehöhlten Pensionskasse der Omag in Mels. Bei der Spinnerei Murg sorgte er für die Gründung einer Transfer-Organisation, und er lancierte die Kampagne gegen die Abspaltung des Textildrucks bei Heberlein in Wattwil.
Im Rest der Schweiz war er wegen seines Einsatzes gegen den Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen und für die Rehabilitation des Judenretters Paul Grüninger bekannt geworden. Seit 1998 ist er Mitglied des Stiftungsrates der Paul Grüninger Stiftung, seit 2019 dessen Präsident.
Rechsteiner begann seine politische Karriere 1977 im St. Galler Stadtparlament. Von 1984 bis 1986 vertrat er die SP im Kantonsrat. Als er vor 36 Jahren erstmals im Nationalrat auftrat, war er mit seinem offenen Hemdkragen ein Bürgerschreck und «enfant terrible».
In den ersten Jahren im Nationalrat waren Fragen der Rechtsetzung und der Sozialen Sicherheit zentral. Mit der Wahl in den Ständerat kam ab 2011 als Schwerpunkt die Interessen der Ostschweizer hinzu. Der SP-Kandidat, der eigentlich das Rampenlicht scheute, eroberte den Sitz von der CVP. Auch SVP-Schwergewicht Toni Brunner konnte nichts daran ändern.
Die seriöse und nüchterne Art von Rechsteiner überzeugte die Wählerinnen und Wähler bis tief in das bürgerliche Lager. Der Wahlkampfschwerpunkt «Gute Renten, gute Löhne» und ein intensiver Strassenwahlkampf sorgten für viel Bewegung im konservativen Landkanton. Rechsteiners Ständerats-Triumph hielt auch 2015 und 2019 an.
Trotz seiner politischen Prinzipien war Paul Rechsteiner immer wieder für Überraschungen gut. In der Kleinen Kammer verstand er es, mit der St. Galler FDP-Vertreterin Karin Keller-Sutter zusammenarbeiten und für den Kanton St. Gallen Erfolge zu verbuchen, etwa beim Bahnausbau im Rheintal.
«Nur weil wir uns regionalpolitisch gut verstehen, ist er nicht nach rechts gerückt und ich nicht nach links. Da sind wir zu gefestigt in unseren Positionen», brachte es die heutige Bundesrätin 2018 auf den Punkt.
Kein Erfolg war seinem Einsatz für das Ende der «Dreivierteldemokratie» beschieden. Rechsteiner lancierte 2021 eine Einbürgerungsoffensive: Alle Menschen, die in der Schweiz geboren werden, sollen das Bürgerrecht automatisch oder vereinfacht erhalten. Der Ständerat wollte aber keinen Systemwechsel und lehnte die Motion ab.
Zuletzt kämpfte er gegen die AHV-Vorlagen. «Die Banken, Versicherungen und ihre Handlanger im Parlament reden die AHV seit ihrer Gründung systematisch schlecht», betonte der SP-Politiker.
Diese Schwarzmalerei habe einen einfachen Grund: «Mit der AHV können sie keinen Gewinn machen, ganz im Gegensatz zur zweiten und dritten Säule.» Im Juni reichte er eine Motion ein, die fordert, dass die Renten spätestens per Ende 2022 vollumfänglich an die Teuerung angepasst werden.