Umweltschützer gehen gegen Windenergie auf Barrikaden
Die Schweiz könnte viel mehr Strom aus Wind produzieren als gedacht, zeigt eine Studie. Bei Umweltverbänden läuten die Alarmglocken – aber nicht bei den Grünen.
Das Wichtigste in Kürze
- Das Windenergiepotenzial ist in der Schweiz viel höher als vor 10 Jahren berechnet.
- Die neue Studie im Auftrag des Bundes schreckt Landschaftsschützer auf.
- Grüne sehen die neuen Zahlen aber als Bestätigung für die Energiestrategie.
Die Schweiz könnte massiv mehr Strom aus Windenergie produzieren als bisher angenommen. Zu diesem Schluss gelangt eine Studie im Auftrag des Bundes, zehn Jahre nach den letzten solchen Berechnungen. Das Windenergiepotenzial ist selbst dann noch gewachsen, wenn realistischerweise nur ein Teil aller theoretisch möglichen Windrad-Standorte genutzt wird.
Windstrom: So viel wie ein AKW
Ausschlaggebend für die Neubeurteilung sind verschiedene Faktoren. Die Technologie hat sich verbessert und es können höhere Anlagen mit grösseren Rotoren gebaut werden. In 100 Metern über Grund sind die Windgeschwindigkeiten höher.
Andererseits wurden Vorschriften gelockert: Unter gewissen Bedingungen darf in geschützten Landschaften, Wäldern und im Abstand von nur 200 Metern von schützenswerten Ortsbildern gebaut werden.
So ergeben sich hypothetische 29,5 TWh Windstrom pro Jahr, zwei Drittel davon im Winterhalbjahr. Bei einem Teilausbau von 30 Prozent, was immer noch 1000 Anlagen entspreche, komme man so auf 8,9 TWh/Jahr. Das ist sogar leicht mehr als das AKW Gösgen produziert. 2012 ging man noch von einem Windenergiepotenzial von 3,7 TWh aus.
Landschaftsschützer entsetzt
Damit wäre das für Windstrom gesteckte Ziel in der Energiestrategie 2050 locker zu erreichen. Ist es aber sinnvoll, zugunsten des Klimaschutzes gigantische brummende Windräder in Unesco-Biosphärenreservate und unmittelbar neben Wohngebiete zu stellen?
Für einmal sind im politischen Links-Rechts-Schema die Rollen anders verteilt. Von Nationalrat Bastien Girod gibt es einen grünen Daumen rauf. FDP-Nationalrat Kurt Fluri aber ist entsetzt und befürchtet das Schlimmste für Natur und Umwelt. Denn Fluri ist auch bei Pro Natura aktiv und Präsident der Stiftung Landschaftsschutz sowie im Beirat von «Wohnen Schweiz».
Er nehme die neue Studie mit Verwunderung zur Kenntnis. «Wieso das Potenzial nun plötzlich so viel höher liegen soll als vor 10 Jahren, müsste zuerst noch erklärt werden.» Fluri hinterfragt, ob die Studie politisch gewünschte Resultate liefern sollte.
Kann das Windenergiepotenzial überhaupt genutzt werden?
Denn: «Vor dem aktuellen Druck, auf Teufel komm raus Strom zu produzieren, ist nichts sicher. So wundert es mich nicht, dass auch Unesco-Biosphärenreservate und geschützte Ortsbilder ins Visier der panikartigen Stromproduktionsförderung geraten.»
Ganz anders reagiert der Grüne Bastien Girod, der die Studienergebnisse für plausibel hält. Aber auch er betont: «Als ersten Punkt müssen wir sicherstellen, dass Windenergieanlagen ausserhalb von Schutzgebieten einfacher gebaut werden können.»
Entsprechende Vorschläge für Gesetzesänderungen seien in Arbeit. Auch aus Grünen-Sicht müsste es also nicht gerade unbedingt das Biosphärenreservat sein. Aber auch so sei das Potenzial sehr gross, betont Girod.
Insbesondere im Winter könne Windenergie ihre Stärken ausspielen: «Deren Bedeutung muss aufgrund der drohenden Mangellage neu beurteilt werden», fordert Girod. Doch FDPler Fluri mahnt, häufig sei es die lokale Bevölkerung, welche derartige Anlagen ablehne. «Deshalb ist es fraglich, ob dieses neu gefundene Potenzial in absehbarer Zeit tatsächlich auch genutzt werden kann.»
Kommt dazu: Windenergie ist nicht konstant verfügbar, je nach Jahreszeit, Region und aktuellem Wetter schwankt die Produktion. Trotzdem hält Bastien Girod das «neu gefundenen» Potenzial für relevant. «Ja, weil Windenergie die ideale Ergänzung zu Wasser und Solar. Die Schwankungen könnten deshalb ausgeglichen werden.»