Merkel sieht in Auschwitz-Gedenken «festen Teil unserer nationalen Identität»
Bei ihrem Besuch im früheren NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) das Erinnern an die dortigen Verbrechen als Teil der deutschen Identität bezeichnet.
Das Wichtigste in Kürze
- Kanzlerin äussert sich bei Gedenkstättenbesuch besorgt über zunehmenden Judenhass.
«An die Verbrechen zu erinnern, die Täter zu nennen und den Opfern ein würdiges Gedenken zu bewahren, das ist eine Verantwortung, die nicht endet», sagte Merkel am Freitag in der KZ-Gedenkstätte im heutigen Polen. Dabei äusserte sie sich besorgt über eine Zunahme von Antisemitismus und Intoleranz.
Die Verpflichtung zur Erinnerung an die NS-Verbrechen sei «nicht verhandelbar» und gehöre «untrennbar zu unserem Land». «Uns dieser Verantwortung bewusst zu sein, ist fester Teil unserer nationalen Identität, unseres Selbstverständnisses als aufgeklärte und freiheitliche Gesellschaft, als Demokratie und Rechtsstaat», sagte die Kanzlerin.
Die Kanzlerin betonte, dass Auschwitz-Birkenau «ein deutsches, von Deutschen betriebenes Vernichtungslager» war. Damit sprach sie im Beisein des polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki eine für seine Regierung besonders wichtige Tatsache an. Warschau ist immer wieder dagegen vorgegangen, dass durch irreführende Formulierungen wie «polnisches KZ» der Eindruck erweckt wurde, Polen habe eine Mitverantwortung für die Vernichtungspolitik der deutschen Nationalsozialisten getragen.
Merkel sagte, es sei wichtig, «diese Tatsache zu benennen». «Das sind wir den Opfern schuldig und uns selbst», hob Merkel hervor. Die Kanzlerin verwies darauf, dass die Erinnerung an die NS-Verbrechen «in diesen Tagen» besonders wichtig sei. «Denn wir erleben einen besorgniserregenden Rassismus, eine zunehmende Intoleranz, eine Welle von Hassdelikten.»
Merkel beklagte «einen Angriff auf die Grundwerte der liberalen Demokratie und einen gefährlichen Geschichtsrevisionismus». Alle müssten klar machen: «Wir dulden keinen Antisemitismus.» Einen «Schlussstrich» unter das Gedenken könne es nicht geben «und auch keine Relativierung», sagte sie mit Blick auf Bestrebungen erstarkender rechtsnationaler und rechtsradikaler Kräfte, die deutsche Erinnerungskultur zu revidieren.
Merkel besuchte das ehemalige deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager zum ersten Mal als Kanzlerin. An der Seite von Morawiecki durchschritt sie am Vormittag das Eingangstor zu dem früheren KZ mit dem zynischen Schriftzug «Arbeit macht frei».
An der sogenannten Todeswand legte Merkel einen Kranz nieder und gedachte mit einer Schweigeminute der dort ermordeten Häftlinge. An der Mauer hatten die Nazis tausende KZ-Insassen erschossen.
In ihrer Rede sagte Merkel, Juden, Sinti und Roma, politische Gefangene, Kriegsgefangene, Homosexuelle und Behinderte seien von den Nazis «planvoll und mit kalter Systematik ermordet» worden. Angesichts des Ausmasses der NS-Verbrechen, für das sie eine «tiefe Scham» empfinde, müsse «man eigentlich verstummen». Zugleich hob die Kanzlerin hervor: «Schweigen darf nicht unsere einzige Antwort sein.»
«Diese Geschichte muss erzählt werden, immer und immer wieder, damit sich solche Verbrechen nicht in Ansätzen wiederholen können», sagte Merkel. Daher gelte es auch die Gedenkstätte in Auschwitz zu erhalten.
Morawiecki betonte, es sei unerlässlich, das Gedenken an die «Hölle» von Auschwitz zu bewahren. «Der polnische Staat verpflichtet sich, diese Erinnerung wach zu halten», sagte er. Es gebe immer weniger Zeitzeugen, umso wichtiger sei es, die Verbrechen der Nazis nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Der polnische Staatschef Andrzej Duda mahnte in einer Grussbotschaft: «Nie wieder darf etwas Ähnliches passieren!»
Nach ihrer Rede traf Merkel die Auschwitz-Überlebenden Bogdan Stanislaw Bartnikowski, Bronislawa Horowitz-Karakulska und Barbara Wojnarowska-Gautier. Allen Überlebenden, die von ihrer Verfolgung durch die Nazis berichteten und mit der Bereitschaft zur Versöhnung «wahrhaft menschliche Grösse» zeigten, dankte Merkel in ihrer Ansprache.
Zugleich wies sie darauf hin, durch den Massenmord der Nazis werde in unserer Gesellschaft «immer eine Lücke klaffen». Ihre Rede schloss die Bundeskanzlerin mit den Worten «Ich verneige mich vor den Opfern der Schoa, ich verneige mich vor ihren Familien.»
Auschwitz-Birkenau war das grösste deutsche Vernichtungslager im Zweiten Weltkrieg. Etwa 1,1 Millionen Menschen, zumeist Juden, wurden dort ermordet, bevor das Lager am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit wurde.