NFL: Diese Ersatzquarterbacks wollen durchstarten
Die Quarterbacks Dobbs, DeVito und Thompson-Robinson sind eigentlich nur Ersatz in der NFL. Jetzt führen sie ihre Teams an – und die Erwartungen sind hoch.
Das Wichtigste in Kürze
- In der NFL avancieren heuer diverse Ersatzquarterbacks zwangsweise zu Hoffnungsträgern.
- Das Purdy-Märchen vom letzten Jahr steigert die Erwartungen an die Ersatzmänner.
- Wir stellen euch drei unverhoffte Starting-Quarterbacks im Porträt vor.
Es ist kein gutes Jahr für Star-Quarterbacks in der NFL. Aaron Rodgers, Daniel Jones, Kirk Cousins, DeShaun Watson, Joe Burrow: Sie alle fallen für ihre Teams voraussichtlich bis zum Saisonende verletzungsbedingt aus. An ihre Stelle treten Backup-Quarterbacks, auf deren Schultern plötzlich die Ambitionen ganzer Franchises lasten.
Bei mehr als der Hälfte aller NFL-Teams springt heuer mindestens einmal ein Ersatzquarterback in die Bresche.
Bengals-Spielmacher Jake Browning war vergangenes Wochenende bereits der 50. Quarterback, der in der laufenden NFL-Saison ein Spiel startete. Nur letztes Jahr war die Zahl bis zu diesem Zeitpunkt höher.
Der neue Purdy-Standard
Brock Purdy, der als «Mr. Irrelevant» und dritter designierter Quarterback die 49ers im vergangenen Jahr bis ins NFC-Championship-Game führte, hat die Backup-Quarterback-Position in der NFL in ein neues Licht gerückt.
Bei Fans und Managern zugleich entstand eine Faszination mit der Geschichte des vermeintlich glanzlosen, unerfahrenen – eben irrelevanten – Ersatzquarterbacks, der seine Mannschaft wider aller Erwartungen in das gelobte Land zu führen vermag.
Mit dem Märchen von Brock Purdy sind die Erwartungen an die Ersatzquarterbacks von heute drastisch gestiegen. Drei Porträts von NFL-Quarterbacks der zweiten und dritten designierten Garde und ihr bemitleidenswertes Unterfangen, dem neuen Purdy-Standard gerecht zu werden.
Joshua Dobbs: Der senkrechtstartende Nasa-Praktikant
Er ist der Inbegriff des sogenannten «Journeyman» – des Wanderburschen: Während seiner sechsjährigen Laufbahn als NFL-Quarterback stand Joshua Dobbs bereits bei sieben verschiedenen NFL-Teams als Backup unter Vertrag – allein in diesem Jahr bei deren drei.
Das Sommertrainingslager startet er bei den Cleveland Browns, ehe er vor Saisonbeginn zu den Arizona Cardinals getradet wird. Nach Kirk Cousins’ Achillessehnenriss holen ihn die verzweifelten Vikings kurz vor Ablauf der Trade-Deadline dann ebenfalls via Tauschgeschäft nach Minnesota.
Noch in derselben Woche und nach nur einem einzigen Training mit seinen neuen Teamkollegen ersetzt er im ersten Viertel des Spiels gegen die Atlanta Falcons Jaren Hall, der mit einer Hirnerschütterung ausfällt. Vikings-Cheftrainer Kevin O’Connell muss ihm die einzelnen Spielzüge während des Spiels am Headset erklären.
Bei Spielpausen bringen ihm seine Offensive Liner die teameigenen Snap-Kadenzen bei. Und doch vollbringt Dobbs das Wunder: Er führt sein neues Team mit drei Touchdowns zum 31-zu-28-Sieg.
Joshua Dobbs hat Luft- und Raumfahrttechnik an der University of Tennessee studiert. Im Sommer absolvierte er zwei Praktika bei der Nasa. Seine herausragende Spielintelligenz und Aufnahmefähigkeit, die er gegen die Falcons unter Beweis hat, kommen also nicht von ungefähr. Auch seine langjährige NFL-Erfahrung als Ersatzmann kommt ihm zugute.
Dobbs als Playoff-Retter
Seit Woche 10 steht er nun als Stammquarterback für die Vikings auf dem Platz – und es lastet viel auf Dobbs’ Schultern: Die Vikings hegen immer noch Playoff-Hoffnungen.
Doch seine Bilanz seither ist durchwachsen: In der Nacht auf Dienstag holen sich die Vikings gegen die Chicago Bears die zweite Pleite in drei Spielen. Joshua Dobbs wirft dabei vier Interceptions. Der ewige Backup droht sein Zenit erreicht zu haben. Ist das Dobbs-Märchen bereits zu Ende?
Nach der Bye-Week warten die Las Vegas Raiders, die ebenfalls mit einem Ersatzquarterback am Ruder um den Playoff-Einzug buhlen. Für Dobbs ist es die letzte Chance, das langjährige Label des glanzlosen Backups abzustreifen.
Tommy DeVito: Der NFL-Quarterback, der noch bei Mama wohnt
An Brock Purdys Cinderella-Geschichte vom Vorjahr wird Tommy DeVito nicht anknüpfen können – zu aussichtslos ist die Saison der 4-und-8-Giants. Eine Feel-Good-Story ist sein fulminanter Aufstieg zum New Yorker Fanliebling allemal.
Der 24-jährige Namensvetter eines Goodfellas-Charakters wuchs in Livingston, New Jersey auf. Als Kind erlebte der Nachfahre italienischer Einwanderer die goldenen Manning-Jahre seiner Giants hautnah mit – das Stadion der New York Giants ist nur knapp 30 Autominuten von seinem Elternhaus entfernt.
Just diese Giants nahmen DeVito im April unter Vertrag, nachdem er im diesjährigen NFL-Draft von keinem Team ausgewählt wurde. Bei den Giants hatte der Rookie zu Beginn einen schweren Stand. Er startete die Saison im Practice Squad, war also nicht einmal Teil des 53-Mann-Kaders.
Der unverhoffte Lichtblick in einer verlorenen Saison
Als sich Daniel Jones in Woche 9 das Kreuzband riss und sein erster Ersatz Tyrod Taylor bereits seit Woche 7 ausgefallen war, avancierte plötzlich Tommy DeVito zum Starting-Quarterback der Gaints.
Wider aller Erwartungen scheint die NFL-Bühne dem Jungen aus New Jersey bisher kein Stück zu gross: Er steht bei 2-1 als Starter, ist der erste Giants-Quarterback seit über 70 Jahren mit mehr als fünf Touchdowns in seinen ersten beiden Spielen und holt bei den letzten beiden Siegen gegen die Commanders und Patriots ein kombiniertes Passer-Rating von 121.12. DeVito ist ein Lichtblick in der für verloren geglaubten Saison der G-Men.
Das Kuriose an DeVito: Er lebt immer noch bei den Eltern zu Hause in New Jersey. Doch was zunächst eigenartig erscheinen mag, macht in Anbetracht seiner aktuellen Situation durchaus Sinn. DeVito verdient «nur» rund 15'000 Dollar in der Woche und seine Zukunft als NFL-Spieler steht trotz der jüngsten Erfolge keineswegs auf festem Fundament.
In einem gnadenlosen Business wie der NFL und einer überteuerten Stadt wie New York ist die Entscheidung, sein Geld auf die Seite zu legen und bei den Eltern zu bleiben, durchaus nachvollziehbar.
«Alles, was ich brauche, ist zu Hause», erklärt er ESPN. Und so wird DeVito weiterhin die dreissig Minuten von seinem Elternhaus zum Stadion der Giants pendeln – nur nicht mehr als Fan, sondern als Starting-Quarterback. Also in Sachen Kitsch kann es die Geschichte von Tommy DeVito mit jener von Brock Purdy zweifellos aufnehmen.
Dorian Thompson-Robinson: Prädestinierter Purdy 2.0?
Dorian Thompson-Robinson – kurz DTR – wohnt zwar nicht mehr bei den Eltern, ist aber ebenfalls ein Rookie, der in der aktuellen Saison unverhofft zum Starting-Quarterback befördert wurde. Aufgrund der Verletzung von Deshaun Watson und der unzureichenden Leistungen von P.J. Walker stand DTR bei den Cleveland Browns bereits drei Mal von Beginn an auf dem Platz.
Anders als bei DeVito befindet sich seine Mannschaft jedoch noch mitten im Playoff-Rennen. Die Cleveland Browns stehen bei einer Bilanz von sieben Siegen zu vier Niederlagen. In der umkämpften AFC reicht das zurzeit knapp für den zweitletzten Playoff-Platz. Der Druck auf den Rookie ist enorm.
Rein vom Draft-Profil her ähnelt Thompson-Robinson Purdy am ehesten: Trotz guten Zeugnissen und reichlich Filmmaterial während fünf Jahren College bei UCLA fällt DTR auf den Draftboards der NFL-Scouts weit nach unten.
Genau wie Purdy werden ihm sein vergleichsweise hohes Alter und seine unterdurchschnittliche Armstärke zum Verhängnis. Er landet schliesslich in der fünften Runde des diesjährigen NFL Drafts bei den Cleveland Browns.
Die NFL-Bühne scheint noch zu gross
In der Preseason macht DTR dann mit zahlreichen guten Leistungen auf sich aufmerksam. Weil Deshaun Watson verletzt ausfällt, kommt DTR bereits in Woche 4 zu seinem ersten NFL-Start. Die Baltimore Ravens waren jedoch eine Nummer zu gross für den 24-Jährigen: Er wirft drei Interceptions und die Browns verlieren klar mit 28-3.
Nach Deshaun Watsons endgültigem Saisonaus in Woche 10 erhält DTR eine zweite Chance. In Woche 11 vermag er noch zu überzeugen und führt seine Browns zu einem Heimsieg gegen die Steelers. Am vergangenen Wochenende setzt es dann eine klare 12-zu-29-Niederlage gegen die Denver Broncos. Dabei zieht sich DTR eine Gehirnerschütterung zu.
Derzeit ist noch ungewiss, ob Thompson-Robinson am Sonntag gegen die Rams antreten kann. Womöglich wird ihn der erfahrene Super-Bowl-Gewinner Joe Flacco ersetzen. Es wäre der dritte Ersatzquarterback, der in dieser Saison das Zepter der Cleveland Browns übernimmt.