Grüne Schweiz: Regula Rytz zum 1. August

Grüne Schweiz
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Sissach,

Rede zur 1. Augustfeier in Sissach, 1. August 2018, von Regula Rytz, Nationalrätin und Präsidentin der Grünen Schweiz.

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Regula Rytz im Gespräch mit Besucher an der 1. Augustfeier in Sissach.
Regula Rytz im Gespräch mit Besucher an der 1. Augustfeier in Sissach. - zvg

Das Wichtigste in Kürze

  • Regula Rytz spricht anlässlich des Nationalfeiertages über die grossen Tugenden der Schweiz
  • Die Schweiz soll wieder mehr auf Ausgleich, Offenheit und Pioniergeist setzen

Liebe Bürgerinnen und Bürger von Sissach, liebe Freunde, liebe Gäste, lieber Robert Bösiger

Es freut mich sehr, den 1. August heute Abend mit Ihnen in Sissach zu feiern. Ich danke herzlich für die Einladung. Es ist ja eine Art Heimspiel, wenn ich das als Bernerin im Baselbiet so sagen darf. Meine grünen Freund/innen Maya Graf, Florence Brenzikofer und Isaac Reber wohnen in Sissach und Umgebung. Und ganz in der Nähe – in Buckten – leben Verwandte, die mein Mann und ich mindestens einmal im Jahr besuchen. Meist reisen wir mit dem berühmten Läufelfingerli an. Und wir geniessen zu jeder Jahreszeit die wunderschöne Baselbieter Juralandschaft, die Kirschbäume und das reiche kulturelle Erbe der Region.

Ein Nationalfeiertag ist ja in der Regel ein patriotischer Akt. Doch in diesem Jahr ist alles anders. Heute geht es in der ganzen Schweiz um die Frage: to fire or not to fire. In vielen Kantonen mussten die Höhenfeuer abgesagt werden. Die Kracher und Raketen bleiben am Boden und in einigen Zürcher Gemeinden wurde letzte Woche sogar das Grillieren auf dem Balkon verboten. Man könnte nun meinen, das sei etwas übertrieben. Ist es aber nicht. Nicht die Behörden, sondern die Natur spielt verrückt. Die Welt schwitzt und trocknet aus. 44 Grad in Kalifornien, 33 Grad in Sibirien, Dürre und Ernteausfälle in Europa, Waldbrände in Schweden und Griechenland – die Schreckensmeldungen werden täglich länger.

Das ist der Klimawandel, klar. Wir wissen, dass er stattfindet. Wir wissen, dass die Menschen mitverantwortlich sind. Wir wissen, dass wir rasch etwas tun müssen. Wir alle ganz persönlich, die Wirtschaft und auch die Politik. Viele von uns sind dran. Nicht immer perfekt, aber mit Herzblut. Auch das Bundesparlament beugt sich seit Monaten über ein neues CO2-Gesetz und hat das Klimaabkommen von Paris unterschrieben. Nur eine Partei war dagegen – Sie dürfen raten. Alle anderen haben mitgeholfen, aber manchmal frage ich, ob sie wirklich gelesen haben, was drin steht. Es ist eine Herkulesaufgabe. Es geht nämlich um nichts Geringeres, als bis in die zweite Jahrhunderthälfte vollständig auf Gas, Öl und Kohle zu verzichten. Die zweite Jahrhunderthälfte – das ist in 30 Jahren. Dann ist mein Göttibueb 40 Jahre alt und ich bin 86. 30 Jahre. Ein Wimpernschlag der Erdgeschichte. Aber Schicksalsjahre für die Menschheit.

Zum Glück hilft uns die Technik. Forscher und weitsichtige Unternehmerinnen entwickeln seit vielen Jahren umweltschonende Verfahren, investieren in grüne Energie, fördern die Kreislaufwirtschaft. Das schafft lokale Arbeitsplätze und spart Kosten. Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass man heute Häuser bauen kann, die nicht nur ihren Energiebedarf selber decken, sondern zusätzlich Energie ins Netz speisen? Heute weiss jedes Kind: Es geht!

Das ist gut, doch Technik alleine reicht nicht. Der heutige ersten August ist nämlich nicht nur unser Nationalfeiertag, sondern auch der World Overshoot Day. Der globale Überlastungstag. Das heisst: Die Weltgemeinschaft hat heute sämtliche erneuerbaren und regenerierbaren Ressourcen des Jahres 2018 aufgebraucht. Ab morgen leben wir auf Pump. Ab morgen konsumieren wir die Vorräte unserer Kinder. Ab morgen beanspruchen wir mehr Acker- und Weideland, mehr Fischgründe und mehr Energie, als uns die Natur langfristig zur Verfügung stellt. Und wir stossen mehr CO2-Emissionen aus, als die Wälder und Ozeane der Welt aufnehmen können. Die Schweiz hat den Überlastungstag übrigens schon am 7. Mai erreicht. Man muss kein Rechengenie sein um zu sehen: Das geht nicht auf.

Was tun? Pessimismus hilft nicht weiter. Wir wollen auch nicht einfach hungern oder den Kühlschrank abstellen bis Ende Jahr. Aber wir müssen die Ärmel hochkrempeln und anpacken. Und dazu haben wir in der Schweiz die besten Voraussetzungen. Denn vor 170 Jahren hat unser kleines Land eine politische Kultur entwickelt, die auch für Herkulesaufgaben gerüstet ist.

Nun wird meine Rede also doch noch etwas patriotisch. Denn ich werde ewig dankbar sein dafür, dass ich per Zufall in eine Demokratie mit funktionierendem Rechtsstaat und ausgebauten Bürgerrechten hineingeboren wurde. Diese Demokratie fiel übrigens nicht vom Himmel. Sie ist das Ergebnis eines Bürgerkriegs. Die liberal-radikalen Kantone siegten 1847 militärisch gegen den katholischen Sonderbund und setzten 1848 die erste Verfassung der modernen Schweiz in Kraft. Aus heutiger Sicht gibt es an der Verfassung von damals viel zu bemängeln. Die Diskriminierung der Juden zum Beispiel oder die Ausklammerung der Frauen. Doch der föderalistische Bundesstaat erwies sich als erstaunlich stabiles und flexibles Staatsgebilde. Und als weitsichtig dazu. Schon der Sonderbundkrieg von 1847 wurde nach anderen Regeln geführt als die heutigen Bürgerkriege in Syrien oder Afghanistan. General Dufour verordnete den Berner, Zürcher und Baselländler Soldaten nämlich «Mässigung und Menschlichkeit». Er wollte mit den Innerschweizer Kantonen, mit Freiburg und dem Wallis nach dem Krieg ja einen gemeinsamen Staat aufbauen. Dafür ist Gewalt und Hass ein schlechtes Fundament. Für diese Einsicht hat Henri Dufour zu Recht den höchsten Platz der Schweiz verdient, die Dufourspitze auf über 4600 Meter. Vielleicht sollte man die Erdogans, Trumps, Salvinis und Putins dieser Welt dort einmal im Jahr in ein Biwak schicken.

Die Schweizer Geschichte kennt weitere Highlights. Die Schweiz war 1877 das erste Land der Welt, das den Schutz der Arbeiterinnen und Arbeiter in einem Fabrikgesetz regelte. Die Schweiz war 1876 das erste Land der Welt, das den Wald als lebenswichtige Naturressource schützte. Und die Schweiz ist das erste und bisher einzige Land der Welt, das mit dem fakultativen Referendum und der Volksinitiative politische Trumpfkarten dauerhaft an die Bevölkerung verteilt.

Darauf können und sollen wir stolz sein. Aber wir dürfen nicht überheblich werden, so wie jüngst unser neuer Aussenminister. Er verwechselt Dankbarkeit mit nationaler Überlegenheit und macht sich über andere Länder lustig. Das bringt nichts. Denn früher wie heute kann die Schweiz nur als Teil der grossen Weltgemeinschaft überleben. Achtzig Prozent der Energie, hundert Prozent der Rohstoffe, Computer, Handys, Kleider, Nahrungsmittel – immer mehr Güter des täglichen Bedarfs kommen aus dem Ausland. Es kann uns deshalb nicht gleichgültig sein, wie die Menschen dort leben. Unser Wohlstand hängt auch von ihnen ab. Statt Überheblichkeitsgefühle brauchen wir mehr Respekt und faire Spielregeln. Auch für den globalen Handel mit Nahrungsmitteln. Wie das geht, wird euch Maya Graf nachher bei einem guten Glas Wein gerne sagen!

Liebe Bürgerinnen und Bürger von Sissach.

Die Geschichte ist kein Ruhekissen, auf dem wir uns gemütlich räkeln können. Im Gegenteil. Wir müssen unsere eigene Etappe, die Gegenwart, aktiv gestalten. Dabei können wir durchaus auf bewährte Schweizer Traditionen und Tugenden zurückgreifen.

Meine erste Lieblingstugend ist der Ausgleich. Es ist das bestimmende Element der Schweizer Staats- und Gesellschaftsordnung. Zuerst war es der Ausgleich zwischen den katholischen und reformierten Kantonen. Immer mehr kam auch der soziale Ausgleich dazu. Die soziale Sicherheit im Alter, bei Mutterschaft oder bei Arbeitslosigkeit. Leider kommt die Tugend des Ausgleichs immer mehr aus der Mode. Während sich die einen immer mehr leisten können, haben andere Mühe, die steigenden Krankenkassenprämien zu bezahlen. Das müssen wir ändern. Denn ein „Chancenland“ kann die Schweiz nur sein, wenn Einkommen, Vermögen und Steuerbelastung wieder gerechter verteilt werden.

Meine zweite Lieblingstugend ist die Offenheit. 1848 gewährte die Schweiz politisch Verfolgten aus ganz Europa grosszügig Asyl und weigerte sich, sie an benachbarte Monarchien auszuliefern. Wirtschaftlich war die junge Demokratie eng mit den Nachbarländern und ihren Kolonien vernetzt. Unternehmer, Studierende und Arbeitskräfte überquerten in beide Richtungen die Grenze. Als rohstoffarmes Binnenland mitten in Europa ist die Schweiz auch heute auf diesen Austausch angewiesen. Abschottung ist so unschweizerisch wie kaiserliche Krönungszeremonien.

Die dritte grosse Tugend der Schweiz ist der Pioniergeist. Der längste Bahntunnel der Welt, das Verbot von Kinderarbeit, die Einführung des Katalysators – wo ein Problem war, wurde es nach dem Prinzip „l’état c’est nous“ gemeinschaftlich gelöst. Genau diesen Pioniergeist braucht die Welt heute. Pioniergeist gegen den Klimawandel, die immer brutaleren Kriege oder die Knappheit an Rohstoffen. Es ist völlig unschweizerisch, sich wie der Bundesrat heute immer nur hinter anderen Ländern zu verstecken und nur ans Geschäft zu denken, auch ans Geschäft mit Waffen. Die Schweiz ging 1848 politisch und gesellschaftlich voran, und wir haben es bis heute nicht bereut.

Das grosse Vorbild des föderalistischen Bundesstaates Schweiz waren 1848 übrigens die USA. Dort werden aktuell in rasendem Tempo die Institutionen und Werte zertrümmert, die die Vorfahren aufgebaut haben. Auch in Europa und in der Schweiz sind ähnliche Kräfte am Werk. Schlagen wir sie mit unserem Mut und unseren Traditionen. Wir sind so frei!

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