Gewalt an Kindern ist oft eine Folge der Überforderung
«Blaue Flecken gehen wieder weg, der Schaden in der Kinderseele bleibt», sagt Georg Staubli. Der Kinderarzt erklärt, warum Kinder für ihre Eltern lügen.
Das Wichtigste in Kürze
- Mehr als die Hälfte der Schweizer Kinder erleben physische oder psychische Gewalt.
- Kinderarzt: Eltern schlagen ihre Kinder aus Überforderung, nicht weil die Liebe fehlt.
«Ich bin vom Velo gefallen.» Darauf beharrt der Fünfjährige. Er sitzt auf dem Notfall des Zürcher Kinderspitals, übersäht mit Verletzungen, die – da sind die Kinderärzte sich einig – für einen Velounfall äusserst untypisch sind: Die striemenförmigen Abdrücke auf dem Rücken und der Handabdruck auf dem Füdli, bei dem sich die einzelnen Finger abzeichnen, passen zu einem ganz anderen Szenario.
«Mich erstaunt immer wieder, wie loyal die Kinder ihren Eltern gegenüber sind – selbst wenn sie von ihnen geschlagen werden», sagt Georg Staubli, Leiter der Notfallstation des Universitäts-Kinderspital Zürich, der Kinderschutzgruppe und Opferberatungsstelle.
In der Schweiz leben 1,2 Millionen Kinder zwischen einem und 15 Jahren. Mehr als die Hälfte davon erlebt irgendwann physische oder psychische Gewalt. Das ergab kürzlich eine Studie der Universität Freiburg. «Davon», sagt Staubli, «sehen wir am Kinderspital natürlich nur die Spitze des Eisberges. Die schlimmsten Fälle.» Dazu gehören Kinder mit gebrochenen Knochen, inneren Blutungen, offenen, ausgepeitschten Wunden, Verbrennungen durch heisses Wasser oder ein Bügeleisen.
Warum die Eltern ihre Kinder erst derart misshandeln und danach doch auf den Notfall bringen – meist mit einer fadenscheinigen Geschichte im Ärmel? «Eltern schlagen ihre Kinder meistens, weil sie keine andere Möglichkeit mehr sehen. Weil sie verzweifelt sind, nicht, weil sie ihr Kind nicht mehr lieben», sagt der Kinderarzt.
Wenn die Beweise fehlen
Staubli war es, der damals die Eltern des kleinen Jungen auf den vermeintlichen Fahrradunfall angesprochen hat. Sie blieben bei der Geschichte ihres Sohnes. Häusliche Gewalt? Nein, bestimmt nicht.
Was kann der Kinderarzt tun, wenn er einen Verdacht hegt? «Kinder stossen sich dauernd irgendwo, dass sie blaue Flecken haben, ist normal. Aber es gibt gewisse Stellen, da wissen wir, dieser Fleck kommt nicht von einem normalen Sturz». Dennoch sei es ohne Beweise schwierig, zu handeln. «Uns bleibt nur, die Eltern aufzuklären, ihnen Hilfe anzubieten und dafür zu sorgen, dass das Kind beispielsweise vom Kinderarzt regelmässig untersucht wird», so der Kinderarzt.
Eine Anzeige hilft nur bei schweren Fällen
Sind die Verletzungen eindeutig auf Gewalt zurückzuführen und schweigen die Eltern beharrlich, haben die Ärzte zwei Möglichkeiten: «Entweder, wir schalten die Polizei ein. Dann bekommen die Eltern allenfalls eine hohe Busse wegen Körperverletzung. Die Strukturen aber sind noch immer die gleichen. Aber zur Überforderung der Eltern kommt jetzt noch hinzu, dass ihnen vielleicht 1000 oder 2000 Franken fehlen. Die gehen dann an die Verfahrenskosten, statt dass das Kind davon neue Schuhe bekommt.»
Die Kinderschutzgruppe zieht es darum vor, eine Gefährdungsmeldung zu machen. Deren 80 stellt die Gruppe durchschnittlich pro Jahr aus. «Dann haben wir die Möglichkeit, die beste Lösung für das Kind zu suchen. Denn dort – und nur dort – muss der Fokus liegen.» Oft beginnen die Eltern dann, sich einzugestehen, dass sie überfordert sind. «Das ist der erste und wichtigste Schritt. Denn jetzt können sie endlich Hilfe annehmen.»
Sich Schwächen eingestehen
Wenn Schaubli Verletzungen sieht, die ihm verdächtig vorkommen, spricht er die Eltern direkt darauf an. «Kürzlich ist die Mutter eines Kleinkindes dann weinend zusammengebrochen und hat mir gestanden, dass sie einen Finken nach ihrem Kind geworfen hat. Für solche Situationen bin ich unendlich dankbar. Dass Eltern mit ihren Kindern manchmal überfordert sind, ist klar. Da kann man gar nichts dagegen tun. Und es gibt Kinder, die saudoof tun. Aber nur, wenn die Eltern sich nicht eingestehen, dass sie mit ihrem Latein am Ende sind, beginnt die Gewaltspirale. Sind sie offen, können wir helfen.»
Meistens könne dann eine Lösung mit den Eltern gefunden werden, die die Welt des Kindes wieder besser macht. «Meistens ist es das Beste für das Kind, eine Lösung mit den Eltern zu finden und nicht, diese zu bestrafen.»
Einfach sei das allerdings selten. «Bei meinem ersten, schweren Fall war ich wahnsinnig wütend auf die Eltern. Sie hatten das jüngere Kind zu Tode geprügelt. Das ältere war viel zu dünn – sie hatten es offensichtlich hungern lassen. Ich wäre am liebsten auf die Eltern los und hätte ihnen so richtig die Meinung gesagt. Aber das wäre falsch. Wir Kinderärzte dürfen nicht unseren Emotionen folgen, sondern ganz ruhig überlegen, was am besten ist für das Kind.»
Schaden bleibt
Den kleinen Jungen mit dem «Fahrradunfall» hat Schaubli übrigens wiedergesehen: «Er kam fünf Jahre später wieder zu uns ins Kinderspital. Seine Eltern waren gerade in Trennung. Jetzt gestand er uns, dass der Vater ihn geschlagen hat. Damals, als er fünfjährig war und immer wieder bis jetzt», sagt Staubli. Warum ein Kind so lange für seine Eltern lügt? Haben sie Angst vor noch mehr Schlägen? Staubli schüttelt den Kopf. Das sei selten der Fall. «Kinder tun alles, um bei Ihren Eltern bleiben zu können.»
Es habe wehgetan, zu wissen, dass er dem Jungen damals nicht habe helfen können. «Blaue Flecken gehen wieder weg, der Schaden in der Kinderseele bleibt», sagt er. Doch sobald die Fakten auf dem Tisch liegen, könne die Arbeit an der Heilung beginnen.