Im Osten Deutschlands droht Wahlsieg der extremen Rechten

Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg könnte eine rechtsextreme Partei in einem deutschen Bundesland die stärkste werden.

AfD-Parteivorsitzende Alice Weidel. (Archivbild) - keystone

Es sind nur zwei recht kleine Bundesländer, in denen zusammen kaum mehr als sieben Prozent der deutschen Bevölkerung leben. Wenn sich am Sonntag trotzdem alle Augen auf Sachsen und Thüringen richten, dann liegt das an den Umfragen zu den Landtagswahlen in den beiden Freistaaten. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg könnte eine rechtsextreme Kraft stärkste Partei in einem deutschen Bundesland werden.

Laut Forschungsgruppe Wahlen liegt die Alternative für Deutschland (AfD) in Thüringen mit 30 Prozent weit vor den Christdemokraten (CDU, 21 Prozent) und dem neu gegründeten linkspopulistischen Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW, 19 Prozent). In Sachsen steht die AfD bei 30 bis 32 Prozent und liefert sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der CDU von Ministerpräsident Michael Kretschmer. Auch im Bundesland Brandenburg, wo drei Wochen später gewählt wird, liegt die AfD vorn.

Stimmung in Deutschland aufgeheizt

Die drei Parteien der Ampel-Koalition von Bundeskanzler Olaf ScholzSPD, FDP, Grüne – kämen in Sachsen und Thüringen laut Umfragen zusammen nur auf elf bis zwölf Prozent. Die Stimmung in Deutschland ist aufgeheizt. Das Messerattentat von Solingen hat die Migrationsdebatte weiter angefacht.

In der westdeutschen Stadt waren am vorigen Freitag auf einem Volksfest drei Menschen getötet und acht verletzt worden. Ein tatverdächtiger 26 Jahre alter Syrer sitzt in Untersuchungshaft, die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hat die Tat für sich reklamiert. Die AfD hat versucht, sie propagandistisch auszuschlachten.

Der rechte Aufstieg und die Migrationsthemen seit 2015

Die AfD war 2013 von wirtschaftsliberalen Euro-Kritikern gegründet worden, die für einen Austritt Deutschlands aus der Währungsunion warben. Im Laufe der Jahre rückte sie immer weiter nach rechts und punktete seit der Flüchtlingskrise 2015 vor allem mit dem Thema Migration. Die Landesverbände Sachsen und Thüringen werden vom Verfassungsschutz (Inlandsgeheimdienst) als gesichert rechtsextremistisch eingestuft, die Bundespartei und der Landesverband Brandenburg als sogenannte Verdachtsfälle beobachtet.

Auch im Westen Deutschlands kommt die AfD bei manchen Landtagswahlen auf zweistellige Werte. Aber nur im Osten sind es mehr als 20 Prozent, und nur dort wurde sie bei der Europawahl am 9. Juni stärkste Partei. Führende Köpfe wie der thüringische Landeschef Björn Höcke machen mit umstrittenen Äusserungen zum Nationalsozialismus immer wieder von sich reden.

Die AfD als Protestpartei

Es sind aber nicht nur Rechtsextremisten, die der AfD ihre Stimme geben. Forscher sehen sie als typische Protestpartei, die den Wählern ein Ventil gibt, ihrer Unzufriedenheit mit den Verhältnissen im Lande ganz allgemein Luft zu machen. Da ist nicht nur die grosse Zahl von Asylbewerbern, die Kommunen und Landkreise überfordert, oder die Berichte über von Migranten begangene Gewalttaten.

Unmut gibt es auch über hohe Energiepreise. Dazu schlechte Infrastruktur, eine chronisch unpünktliche Bahn, die viele Orte auf dem Lande auch gar nicht mehr ansteuert. oOer über Politiker, die sich während der Coronapandemie mit dubiosen Maskendeals die Taschen vollstopften.

«Die Rache des Ostens»

Hinzu kommt in Ostdeutschland ein allgemeines Gefühl der Benachteiligung gegenüber dem Westen. Bis heute sind die fünf ostdeutschen Bundesländer wirtschaftlich schwächer. Und nach deren «Beitritt» zur Bundesrepublik vor 34 Jahren wurden viele Spitzenposten in Politik, Medien und Verwaltung zwischen Elbe und Oder von – bisweilen wenig qualifizierten – «Wessis» besetzt.

«Die AfD ist die Rache des Ostens.» Dies sagte der Ost-Berliner Theaterregisseur Frank Castorf in einem Interview der «Berliner Zeitung». Laut einer Umfrage des Instituts YouGov sieht eine deutliche Mehrheit der Wahlberechtigten in Sachsen, Thüringen und Brandenburg Ostdeutschland gegenüber dem Westen der Republik im Hintertreffen.

Seit Wiedervereinigung Wahlunterschiede zwischen Osten und Westen

Schon seit der Wiedervereinigung wurde im Osten Deutschlands anders gewählt als im Westen. Nach Einschätzung des Rostocker Politologen Wolfgang Muno entwickelt sich dort ein anderes Parteiensystem. «Das Trennende wird sich verstärken», sagt er.

Mit dem BSW tritt nun bei den Landtagswahlen eine weitere Protestpartei an. Es handelt sich um eine Abspaltung von der Linkspartei unter Führung der Bundestagsabgeordneten und früheren Kommunistin Sahra Wagenknecht. Wirtschafts- und sozialpolitisch vertritt es linke Positionen.

Aber genau wie die rechte AfD will das BSW Migration stärker begrenzen und keine Waffen mehr an die Ukraine liefern. Das trifft den Nerv vieler Ostdeutscher, die dem Westen zumindest eine Mitschuld am Ukraine-Krieg geben. Und glauben, dass die Sanktionen gegen Russland der eigenen Wirtschaft mehr schaden als der russischen.

Die Ampel in Berlin dürfte durchhalten

Auch Sachsens CDU-Landesvater Kretschmer hat sich als Kritiker der Sanktionen hervorgetan. Um in der Dresdner Staatskanzlei weiter regieren zu können, müsste er unter Umständen mit dem BSW zusammenarbeiten. Denn seinen bisherigen Koalitionspartnern – SPD und Grüne – ist nicht einmal sicher, dass sie es in den Landtag schaffen. Auch in Thüringen – bisher vom Linken-Politiker Bodo Ramelow regiert – wird über eine mögliche Koalition aus CDU und BSW spekuliert.

Doch die ideologischen Unterschiede zwischen beiden Parteien sind gross. Die Regierungsbildung dürfte also nach der Wahl in Dresden und Erfurt – ebenso wie drei Wochen später in Potsdam – schwierig werden. Eine Zusammenarbeit mit der AfD schliessen alle anderen Parteien grundsätzlich aus.

Welche Auswirkungen die Wahl in den ostdeutschen Ländern auf die heillos zerstrittene Bundesregierung von Kanzler Scholz hat, bleibt abzuwarten. Dass die Ampel-Koalition ein Jahr vor dem regulären Wahltermin im September 2025 hinscheisst, gilt angesichts der düsteren Aussichten aller drei Parteien bei einer Neuwahl des Bundestags aber als unwahrscheinlich.