Klimarat: Milliarden Menschen gefährdet
Das Klimasystem der Erde reagiert stark verzögert auf veränderte Mengen an Treibhausgasen. Umso erschreckender ist, wie deutlich sich jetzt schon Folgen zeigen.
Das Wichtigste in Kürze
- Bis zu 3,6 Milliarden Menschen leben dem Weltklimarat zufolge bereits in einem besonders vom Klimawandel gefährdeten Umfeld.
«Die Auswirkungen, die wir heute sehen, treten viel schneller auf und sind zerstörerischer und weitreichender als vor 20 Jahren erwartet», heisst es in dem am Montag veröffentlichten (IPCC) zu den Folgen des Klimawandels. Weitere Menschen, die in ihrer Heimat kein Auskommen mehr haben, würden zur Migration gezwungen. Die Regierungen täten noch lange nicht genug, um die schlimmsten Gefahren abzuwenden.
Der Klimarat verlangt fundamentale gesellschaftliche Veränderungen. Die Energie müsse sauber, die Wegwerfmentalität beseitigt werden. Städte und Landwirtschaft müssten nachhaltig und die Mobilität verändert werden: mehr Rad- statt Autofahren, mehr Zugfahren statt Fliegen.
Das Zeitfenster schrumpft
«Wir haben ein schrumpfendes Zeitfenster», warnte der Ko-Vorsitzende der IPCC-Arbeitsgruppe, der deutsche Meeresbiologe Hans-Otto Pörtner. Auch die Bundesregierung tue sich bei der Klimapolitik nicht hervor: «Für die Ambitionen kriegt sie eine Drei und für die Umsetzung eine Vier minus bisher», sagte er der Deutschen Presse-Agentur.
«Einige wenige Länder treten die Rechte des Rests der Welt mit Füssen», wetterte UN-Generalsekretär António Guterres. «Einige wenige Unternehmen streichen reiche Gewinne ein, während sie die Rechte der Ärmsten und Schwächsten ignorieren.» Dass Regierungen ihre Aufgaben nicht machten, sei kriminell.
Der amtierende Präsident der Weltklimakonferenz, Alok Sharma, rief Staaten in aller Welt auf, ihre Klimaziele nachzuschärfen. Die Länder müssten ihre Ziele für das Jahr 2030 erhöhen und sie dringend umsetzen, schrieb Sharma mit seinem ägyptischen Nachfolger Sameh Shoukry und der UN-Klimachefin Patricia Espinosa in einem gemeinsamen Statement. Beim UN-Klimagipfel in Glasgow hatten sich die Staaten im vergangenen November dazu bekannt, die Erderhitzung auf 1,5 Grad begrenzen und dazu ihre nationalen Klimaziele bis spätestens zum Jahresende nachschärfen zu wollen. Bislang hat dies noch kein grosses Land getan, wie der Klimaforscher Niklas Höhne kürzlich kritisierte.
Sofortprogramm geplant
Bundesumweltministerin Steffi Lemke erklärte, in nächster Zeit solle ein Sofortprogramm Klimaanpassung verabschiedet werden. Die Bundesregierung wolle ihre Anstrengungen im Kampf gegen die Erderwärmung deutlich hochfahren.
Längst sind die Folgen des Klimawandels in allen Teilen der Welt sichtbar: Es gibt verheerende Waldbrände wie im Mittelmeerraum und im Westen der USA, Überschwemmungen wie in der Region von Ahr und Erft im Juli 2021, Hitzewellen wie in Sibirien. Am Montag erst meldete der Deutsche Wetterdienst (DWD), dass der Winter 2021/22 der elfte zu warme in Folge gewesen sei.
Noch nähmen Ökosysteme mehr Treibhausgase auf als sie selbst verursachten, heisst es in den IPCC-Dokumenten. Das ändere sich aber, wenn Urwald abgeholzt oder Torfmoorgebiete trockengelegt werden oder der arktische Permafrost schmilzt. «Dieser und andere Trends können noch umgekehrt werden, wenn Ökosysteme instandgesetzt, wieder aufgebaut und gestärkt und nachhaltig bewirtschaftet werden», schreiben die Wissenschaftler. «Gesunde Ökosysteme und eine reiche Artenvielfalt sind die Grundlage für das Überleben der Menschheit.»
Arten- und Klimaschutz gemeinsam denken
30 bis 50 Prozent der Erdoberfläche müsse für Naturräume zur Verfügung gehalten werden, erklärte IPCC-Experte Pörtner. Sie könnten genutzt werden, aber nur in einem nachhaltigen Miteinander von Mensch und Natur. «Dieses Denken ist in der Politik noch nicht so richtig angekommen.»
«Es ist höchste Zeit, Arten- und Klimaschutz als gemeinsame Herausforderung zu betrachten», betonte auch der Generalsekretär der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU), Alexander Bonde. «Beides ist notwendig, wenn der Mensch eine Zukunft auf diesem Planeten haben will.»
Viele Arten erreichten bei der Anpassung an den Klimawandel Grenzen und seien vom Aussterben bedroht, heisst es im IPCC-Bericht. Bei einer globalen Erwärmung von vier Grad über dem vorindustriellen Niveau wären demnach 50 Prozent der an Land befindlichen Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht.
«Die Menschheit hat die Natur jahrhundertelang wie ihren schlimmsten Feind behandelt», sagte Inger Andersen, Exekutivdirektorin des UN-Umweltprogramms UNEP. «Tatsächlich kann die Natur unser Retter sein, aber wir müssen sie zuerst retten.»
Eine von vielen Herausforderungen
Die globale Erwärmung treffe noch mit weiteren Herausforderungen zusammen, so der Weltklimarat. Er zählt die wachsende Weltbevölkerung auf, die Migration der Menschen in Städte, zu hohen Konsum, wachsende Armut und Ungleichheit, Umweltverschmutzung, Überfischung und jüngst die Corona-Pandemie. Krankheitsrisiken nähmen zu, das Dengue-Fieber etwa werde sich ausbreiten, auch nach Europa.
Der Weltklimarat wurde 1988 gegründet. Der neue Report ist Teil zwei seines 6. Sachstandsberichts zum Klimawandel. Der erste Teil über die wissenschaftlichen Grundlagen kam im August 2021 heraus. Der dritte Teil befasst sich mit Möglichkeiten, den Klimawandel zu mindern. Er wird im April erwartet.
Der aktuelle IPCC-Bericht zeige eines klar und deutlich, betonten die Umweltaktivisten von Fridays For Future: «Wir haben kein Erkenntnisproblem mehr, wir haben ein Umsetzungsproblem.» Keine Regierung der Welt könne behaupten, nicht zu wissen, was auf dem Spiel stehe. «Wir wissen, dass die Klimakrise Menschen tötet, Natur zerstört, die Welt ärmer macht und dass sich ihre Folgen mit jedem Zehntelgrad weiterer Erwärmung intensivieren.» Konsequente Klimapolitik sei unverzichtbarer Teil von stabilen Demokratien, sicherer Lebensmittelversorgung und sozialer Gerechtigkeit. «Es ist alles gesagt – jetzt zählen Handlungen.»