Pendler lesen im ÖV Erotik-Romane – darf man das?
Pendeln ist oft langweilig. Um den Alltag aufzupeppen und dem Alltagsstress zu entfliehen, greifen viele zu erotischer Literatur. Ist das übergriffig?
Das Wichtigste in Kürze
- Im Schweizer ÖV lesen viele Menschen erotische Literatur.
- Oftmals wirken die Bücher vollkommen unschuldig, doch es geht vor allem um eines – Sex.
- Aber Achtung: Das kann auch in Richtung Exhibitionismus gehen.
Sie verschanzen sich im Zug hinter Büchern. Was um sie geschieht, nehmen sie gar nicht wahr. Die Rede ist von gefesselten Leserinnen und Lesern.
Was mögen das für Texte sein, die so vereinnahmen? Die Buchcover weisen auf nichts Besonderes hin – niedliche Illustrationen, arglose Titel.
Doch wer nachrecherchiert, erfährt, was so faszinierend ist: Die Bücher, zu denen viele Pendler greifen, sind geladen mit ausschweifenden und saftig-scharfen Sex-Szenen.
Da fallen in den Beschreibungen Menschen gierig übereinander her – sie greifen, grapschen, kneten, lecken, küssen, beissen an sich herum. Mit blanker Lust und gelegentlich auch Sadomaso.
So schwungvoll geht für viele Pendler die Fahrt in und aus dem Arbeitstag. Aber: Beim Schund-Lesen sind sie immer noch in der Öffentlichkeit. Darf man das – oder ist das übergriffig?
Exhibitionismus «nicht in Ordnung»
Psychologe Himanshu Giri vermutet gegenüber Nau.ch, dass die meisten Sexroman-Leserinnen und -Leser «dem Alltagsstress entfliehen oder unbewusst ihre Sexualität erkunden möchten».
Erotische Bücher würden einen «sanften Übergang» in eine Fantasiewelt bieten, in der man sich verlieren könne. Statistiken dazu, warum Sexromane beim Pendeln so beliebt sind, gebe es nicht.
Doch eine mögliche Motivation könnte auch Aufmerksamkeit sein, sagt Giri. Gelegentlich gehe das vielleicht sogar in Richtung Exhibitionismus. «Das wäre nicht in Ordnung – Zufriedenheit auf Kosten anderer.»
Trotzdem: Bücher unterscheiden sich stark von anderen erotischen Medien wie beispielsweise Porno-Videos, gibt Giri zu bedenken. Schliesslich gibt es weder Ton noch Bildmaterial, mit Ausnahme des Covers.
Wer weiss, worum es geht, hats wohl selbst gelesen
Kurz: Je weniger man anhand des Deckblatts erkennen könne, desto akzeptabler ist das Buch. «Wer es trotzdem bemerkt, für den ist es wahrscheinlich in Ordnung», mutmasst Giri.
«Denn wer weiss, was im Buch steht, hat es selbst gelesen oder sich auf andere Weise mit der Thematik beschäftigt.»
Giri fragt sich ohnehin, ob andere überhaupt bemerken würden, dass jemand einen Erotikroman liest. «Die meisten Menschen sind schliesslich mit ihren Smartphones beschäftigt», sagt er.
«Sollten unsere sexuelle Neugier nicht verbergen»
Würde sich jemand «nur an Worten» stören, wäre das aber ohnehin das Problem dieser Person. «Das hätte wahrscheinlich mehr mit eigenen unterdrückten Gefühlen zu tun als mit irgendetwas anderem.» Fortschrittlicher sei es, den Menschen zu erlauben, zu lesen, was sie wollen.
«Wir sollten unsere Interessen und damit auch unsere sexuelle Neugier nicht verbergen müssen», sagt Giri. «Unterdrückung kann zu noch schlimmerem Verhalten führen. Extreme Beispiele sind das Masturbieren in der Öffentlichkeit oder gar Vergewaltigungen.»
Wird man beim Erotikroman-Lesen von jemandem konfrontiert, sollte man die Situation nicht eskalieren lassen. «Gegenseitiger Respekt im öffentlichen Raum ist entscheidend.» Schliesslich dürfe niemand im ÖV eigene Regeln durchsetzen.