Anna Leissing (Grünes Bündnis): Flucht & Armut sind keine Verbrechen
In einem der reichsten Länder der Welt erleben Geflüchtete Gewalt und soziale Kälte. Anna Leissing erklärt, was sie im Berner Grossrat bewirken möchte.
Das Wichtigste in Kürze
- Spart die reiche Schweiz auf Kosten von Armen und Geflüchteten?
- Anna Leissing (GB) will sich für eine solidarische Asyl- und Sozialpolitik einsetzen.
- Ein Gastbeitrag im Vorfeld der Grossratswahlen im Kanton Bern am 27. März 2022.
Wieder ist das Schreckensgespenst Krieg in Europa zur traurigen Realität geworden. Wieder zwingen Angst, Gewalt und Zerstörung die Menschen zur Flucht.
Wieder ist Solidarität mit den Männern, Frauen und Kindern gefragt, die bei uns Schutz und Hoffnung suchen. So wie es Menschen aus Afghanistan, Syrien, Eritrea, der Türkei und vielen weiteren Ländern in den letzten Jahren getan haben und immer noch tun.
Die Haltung der reichen Schweiz ist aber alles andere als solidarisch. Sie fördert Abschottung, Rassismus und Diskriminierung – und dies mit teilweise perfiden Mitteln.
Da wäre zum Beispiel die Erhöhung des finanziellen Beitrags an Frontex, die europäische Grenzschutzagentur, die wegen massiver Gewalt und Verletzung der Menschenrechte international in der Kritik steht. Dank dem grossen Einsatz von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Aktivistinnen werden wir im Mai 2022 über das Referendum abstimmen.
Ein anderes Beispiel ist der skandalöse Entscheid des Bundesrats, die Sozialhilfe für Personen aus sogenannten Drittstaaten zu kürzen. Dass Menschen aufgrund ihrer Nationalität in einer Notlage mehr oder weniger Unterstützung erhalten sollen, ist diskriminierend und nicht zu rechtfertigen. Dazu läuft gerade die Vernehmlassung.
Der Bund ist auch verantwortlich dafür, dass solidarische Städte wie Bern nicht mehr Geflüchtete aufnehmen können. Stur beharrt er darauf, Migration sei eine nationale Angelegenheit. Dadurch verhindert er eine rasche und unkomplizierte Unterstützung von Menschen in Not.
Prekäre Zustände im Kanton Bern
Auch der Kanton Bern steht für seine Asylpolitik immer wieder in der Kritik. Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) hat erst kürzlich die Zustände in den Rückkehrzentren für abgewiesene Asylsuchende als menschenunwürdig kritisiert.
Familien leben auf engstem Raum, teilweise mit Schimmel. Das Arbeitsverbot und die fehlende Beschäftigung führen zu einer Perspektivlosigkeit, die auf die Psyche schlägt. Für Kinder gibt es keine angemessene Spiel- und Rückzugsmöglichkeiten.
Frauen und Mädchen sind ungenügend vor sexueller Belästigung und Gewalt geschützt. Die Hygieneartikel müssen sie teilweise selbst bezahlen – von der knappen Nothilfe von acht Franken am Tag. Diese wurde inmitten der Pandemie für Personen in Quarantäne sogar noch um die Hälfte gekürzt.
Die Reaktion des bürgerlichen Regierungsrats Philippe Müller, der Bericht sei politisch motiviert, ist einfach nur zynisch. Politisch motiviert ist wohl eher die menschenverachtende Sparpolitik auf dem Buckel derjenigen, die sowieso schon alles verloren haben.
Auch Arme sind betroffen
Dabei sind Geflüchtete auch nicht die einzigen Betroffenen. Menschen, die Sozialhilfe beziehen, sind im bürgerlichen Kanton Bern immer wieder mit einer diskriminierenden und kurzsichtigen Sparpolitik konfrontiert.
So konnte die von SVP-Regierungsrat Pierre Alain Schnegg geplante Kürzung des Grundbedarfs für junge Erwachsene und vorläufig aufgenommene Asylsuchende 2017 nur dank eines Referendums abgewendet werden. Und dies, obwohl auch die Schweizer Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) damals verlauten liess: «Weniger Sozialhilfe ist zu wenig.»
Diese strukturelle Gewalt und soziale Kälte mitten in einem der reichsten Länder der Welt ist beschämend und unhaltbar. Im Grossen Rat möchte ich mich deshalb für eine solidarische Asyl- und Sozialpolitik einsetzen, welche die Bedürfnisse der Menschen ins Zentrum stellt.
Dazu braucht es aber uns alle, denn nur gemeinsam können wir etwas ändern. Indem wir wählen, abstimmen und auf allen Ebenen aktiv werden. Indem wir auf der Strasse sensibilisieren, mobilisieren und protestieren. Und indem wir unsere Privilegien nutzen, um Rechte zu erkämpfen. Für Alle die hier sind und die noch kommen werden.
Zur Autorin: Anna Leissing ist Sozialanthropologin, Leiterin der Schweizer Plattform für Friedensförderung KOFF bei swisspeace und Stadträtin für das Grüne Bündnis.